© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Letzte Zuckungen im Völkergefängnis
Vor 25 Jahren versuchte Gorbatschow vergeblich, die baltischen Republiken Litauen und Lettland gewaltsam in die Sowjetunion zurückzuzwingen
Wolfgang Kaufmann

Nachdem Michail Gorbatschow im März 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU aufgestiegen war, setzte er einen Reformprozeß in Gang, der die drei baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen ermutigte, einseitig ihre Unabhängigkeit von der UdSSR zu verkünden. Dies geschah im März beziehungsweise Mai 1990 – dem vorausgegangen waren Massendemonstrationen von Millionen von Balten während der sogenannten „Singenden Revolution“.

Kurz darauf entsandte Gorbatschow, der derFriedensnobelpreisträger von 1990, einige der gefürchteten Omon-Sondereinheiten und Panzer nach Litauen und Lettland, um die unbotmäßigen Ex-Vasallen Moskaus in den sowjetischen Staatsverband zurückzuzwingen. Dies geschah wie üblich in Reaktion auf einen Ruf von linientreuen Genossen vor Ort, die vor der „Wiederherstellung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung“ warnten und um „brüderliche Hilfe“ baten. 

Allerdings führte das zu keinem sichtbaren Erfolg. Dann aber kam der Januar 1991, in dem die ganze Welt gebannt auf den Nahen Osten starrte, wo der Beginn des Krieges gegen den Irak unmittelbar bevorstand. Nun wagte Gorbatschow, der den Fortbestand der UdSSR mittlerweile zur „heiligsten Aufgabe“ überhaupt erklärt hatte, eine gewaltsame Intervention in Litauen, nachdem seine ultimative Forderung vom 10. Januar, die Unabhängigkeitserklärung zu widerrufen, unbeantwortet geblieben war.

Zunächst besetzten moskautreue Truppen eine Offiziersschule, das Hauptquartier der litauischen Heimwehr und das Pressezentrum sowie den Fernsehsender der Hauptstadt Wilna, dann rollten in der Nacht vom 12. zum 13. Januar 1991 sowjetische Panzer auf das Parlament und den Fernsehturm zu, zu dessen Verteidigung inzwischen mehrere tausend Menschen zusammengekommen waren, welche immer wieder riefen: „Freiheit für Litauen! Besatzer, ab nach Hause!“ Was dann passierte, ging als Wilnaer Blutsonntag in die Geschichte ein: Erst gaben die Angreifer, die wahrscheinlich unter dem Kommando des KGB-Offiziers Michail Golowatow standen, Schüsse auf die Menge ab, dann rollten gegen 1 Uhr 30 Panzer in die Menschenkette hinein, die sich um den Fernsehturm gebildet hatte. Hierbei wurden an die 1.000 Zivilisten verletzt und 14 getötet, darunter die 23jährige Buchhalterin Loreta Asanaviciute, die seitdem in Litauen als eine Art Nationalheilige gilt.

Aufgrund des weltweiten Aufsehens angesichts dieser Ereignisse, die an das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz in Peking vom Juni 1989 gemahnten, verfügte Gorbatschow einen Abbruch der Attacke der sowjetischen Spezialkräfte, womit der Putschversuch gegen die rechtmäßige litauische Regierung unter Vytautas Landsbergis gescheitert war.

Unterdrückung der Freiheit während der Perestroika

Trotzdem kam es am 20. Januar zu einer Neuauflage der Ereignisse, als 40 Omon-Angehörige das Innenministerium in der lettischen Hauptstadt Riga zu erstürmen versuchten, wobei es wiederum fünf Tote gab. Inzwischen waren jedoch über eine halbe Million Letten aufmarschiert, um die Souveränität ihres Landes gegen den Machtanspruch der UdSSR-Oberen zu verteidigen. Deshalb rief der Kremlchef seine Eingreiftruppen auch in diesem Fall schon nach wenigen Stunden zurück, um ein größeres Blutbad zu vermeiden. Aber dennoch: Die Interventionsversuche, welche auf Befehl Gorbatschows erfolgten, zeigen deutlich, daß die Unterdrückung freiheitlicher Bestrebungen in der Sowjetunion auch noch während der Zeit von Glasnost und Perestroika stattfand.

Den Schüssen vom Januar 1991 folgte der Augustputsch in Moskau, in dessen Verlauf Gorbatschow selbst ins Visier kommunistischer Hardliner geriet und der dann trotz seiner Niederschlagung zum beschleunigten Zerfall der Sowjetunion führte. In diesem Zusammenhang mußte die erheblich geschwächte Moskauer Führung schließlich auch die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten anerkennen. Dabei blieben die Opfer von 1991 keineswegs vergessen: Im Juni 2014 schrieb die litauische Justiz achtzig russische Staatsbürger wegen ihrer Verantwortung für den Blutsonntag von Wilna zur weltweiten Fahndung aus. Michail Gorbatschow war allerdings nicht darunter.