© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/16 / 08. Januar 2016

Selbsttherapie auf der gefährlichen Seite
Gerd Rücker hat heimlich die Mauer von der Ost-Berliner Seite fotografiert / Nun wurden diese seltenen Dokumente der deutschen Teilung publiziert
Detlef Kühn

Die Grenzsperranlagen der DDR-Führung, die Berlin in der Zeit vom 13. August 1961 bis zur Maueröffnung am 9. November 1989 teilten und die Berliner in Ost und West voneinander trennten, sind wohl das meistfotografierte Bauwerk in der Geschichte der Stadt gewesen. 

Nicht nur die West-Berliner begleiteten die Absurdität der Teilung ihrer Stadt aus politischen Gründen häufig mit ihren Fotoapparaten. Auch für Millionen Touristen aus aller Welt, die West-Berlin, die „Insel im roten Meer“, in dieser Zeit besuchten, war das Monstrum ein gruseliges, aber begehrtes Objekt des fotografischen Interesses. Entsprechend zahlreich sind einschlägige Veröffentlichungen. Sie haben meist eines gemeinsam: Die Mauer konnte nur von der Westseite aus fotografiert werden. Vom Osten her war das Fotografieren verboten, vor allem weil man befürchtete, auf diese Weise könnten Fluchtwege erkundet oder gar Grenzdurchbrüche vorbereitet werden.

Gerd Rücker, Jahrgang 1942, einem damaligen technischen Angestellten im Fernmeldewesen der Deutschen Post in Ost-Berlin, lag nichts ferner als derartige Absichten. Der Hobby-Fotograf, dem wir den hier anzuzeigenden Bildband verdanken, litt allerdings unsäglich unter der andauernden Teilung seiner Heimatstadt und seines Landes. Es war wohl ein Akt der Selbsttherapie dieses Leidens, daß er in den siebziger Jahren begann, den Ost-Berliner Blick auf die Mauer und darüber hinweg auf das für ihn seit langem unerreichbare West-Berlin zu dokumentieren. 

Nie in das Visier der DDR-Grenzorgane geraten

Im August 1986, „im 25. Jahr der Mauer“, wie er vermerkte, stellte er das Bildmaterial zusammen und kommentierte es sorgfältig, wobei er auch die Umstände des Entstehens dieser Fotos notierte. Diese rein private Dokumentation wird jetzt erstmalig in einer mustergültigen Edition der Öffentlichkeit übergeben. 

Die Herausgeber haben zusätzlich Rückers Wege entlang der Grenze noch einmal mit ihm abgeschritten und seine Erinnerungen aufgezeichnet. Das Werk hat dadurch eine atmosphärische Dichte erreicht, die beeindruckt. Bei älteren Lesern weckt es Erinnerungen, bei jüngeren, die die absurde Situation in der geteilten Stadt nicht mehr selbst erlebt haben, kann es dagegen Verständnis für die Stimmungslage der Menschen damals erzeugen.

Rückblickend mutet es wie ein Wunder an, daß Gerd Rücker in all den Jahren seiner Wanderungen entlang der Grenze nie in das Visier der DDR-Grenzorgane geraten ist. Er war allerdings auch sehr vorsichtig und hat oft, wie er schreibt, mehrere Ausflüge ohne Fotoapparat unternommen, bevor er an einer bestimmten Stelle, die er sich ausgesucht hatte, „zum Schuß“ kam. Er hat auch einfach Glück gehabt; denn „staatsgefährdend“ war sein Verhalten aus Sicht der DDR-Organe mit Sicherheit. So aber können wir ihm für ein wertvolles Dokument der Zeitgeschichte dankbar sein.

Lydia Dollmann, Manfred Wichmann (Hrsg.): Fotografieren verboten! Die Berliner Mauer von Osten gesehen. Christoph Links Verlag, Berlin 2015, broschiert, 111 Seiten, Abbildungen, 20 Euro 

Fotos: Versöhnungskirche im Grenzstreifen an der Bernauer Straße vor der Sprengung 1985: Unter der Teilung seiner Heimatstadt gelitten; Berlin-Mitte südlich des Spittelmarktes, rechts das Springer-Hochhaus 1978: „Insel im roten Meer“; Grenze am Humboldthafen: Heute steht dort der Hauptbahnhof; Reichstag von Osten gesehen: So nah, doch unerreichbar; Hinterlandmauer am Engelufer, hinten die St.-Thomas-Kirche in Kreuzberg: Absurde Situation