© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Der Geist ist aus der Flasche
Asylkrise: Die Übergriffe junger muslimischer Männer in Köln markieren eine Zeitenwende
Christian Vollradt

Die Silvesternacht 2015 war mehr als eine Jahreswende. Sie war auch und ist eine Zeitenwende. Wann immer künftig in diesem unserem Lande über Asyl oder Zuwanderung diskutiert wird, gibt es ein Davor und ein Danach: vor Köln und nach Köln. Und Köln ist nicht (mehr) bloß eine Orts-, Köln ist seitdem auch eine Zeitangabe, untrennbar verknüpft mit den massenhaften sexuellen Übergriffen junger muslimischer Zuwanderer aus Nordafrika und Arabien auf Frauen.

Damit ist nicht gesagt, daß sich die Verhältnisse vor oder nach dieser Zeitenwende grundlegend voneinander unterscheiden. Im Gegenteil. Die Mißstände sind ja nicht erst zu Silvester plötzlich entstanden. Und es wäre auch naiv zu glauben, nach Köln würden rechtsfreie Räume in den Großstädten oder die Gesetzlosigkeit an den deutschen Grenzen im Handumdrehen abgeschafft werden. 

Allen markigen Politikerparolen zum Trotz – von der „vollen Härte des Gesetzes“ und der erleichterten Abschiebung jener, die „ihr Gastrecht verwirkt“ hätten – wird wohl weit wahrscheinlicher wieder jenes Prozedere ablaufen, das einst Franz Josef Strauß so unnachahmlich beschrieben hatte: Auf das Verbrechen folgt zunächst allgemeine Bestürzung und Empörung, dann der Ruf nach harten Maßnahmen, dann die Warnung vor Überreaktionen, daraufhin gar nichts – und schließlich der Übergang zur Tagesordnung. 

Doch zumindest in der aktuellen Debatte kann die Uhr nicht mehr auf die Zeit vor Köln zurückgestellt werden, der Geist ist aus der Flasche. So wie nach Tschernobyl – der etwas anmaßende Vergleich sei erlaubt – auch nicht mehr wie vor der Reaktorkatastrophe über Atomkraft diskutiert werden konnte. Das mußten sogar Befürworter der Kernenergie eingestehen. 

So sind denn die Euphoriker der Willkommenskultur keineswegs verstummt, genausowenig wie die Gouvernanten der Politischen Korrektheit. Aber sie alle spüren die seit Köln geltende Beweislastumkehr, weswegen sie mitunter entsprechend gereizt reagieren. Ein Karikaturist brachte diese Stimmung sehr treffend auf den Punkt, indem er eine linke Feministin wütend schnauben läßt: „Schlimmer noch als die Attacken von Köln ist die Tatsache, daß Islamophobe sie vorausgesagt haben.“ 

Köln habe alles verändert, meinte jüngst dazu der CDU-Vizechef Volker Bouffier, „die Menschen kommen ins Zweifeln“. Man möchte ergänzen: Viele zweifelten schon lange vorher. Was seit Köln grundlegend anders ist? Die Zweifel werden jetzt lauter ausgesprochen. Denn wer zuvor Bedenken äußerte, der massenweise und weitgehend so unkontrolliert wie gesetz- und vertragswidrig verlaufende Zuzug junger Männer aus dem islamischen Kulturkreis nach Deutschland könnte nicht ganz spannungsfrei verlaufen, dem wurden diffuse Ängste und Vorurteile unterstellt. „Besorgter Bürger“ – herablassend-hämisch ausgesprochen – geriet bald zum Schimpfwort. „Bislang war es opferbereiten Naivlingen – beziehungsweise nützlichen Idioten der Flüchtlingsindustrie – gelungen, diejenigen, die aus wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Erwägungen den Flüchtlingsstrom hinterfragen, in eine unliebsame politische Ecke zu stellen, wo sie nicht hingehören“, kommentierte es der holländische Telegraaf zutreffend drastisch. Seit Köln leert sich diese Ecke zusehends.

Mag es wohl nur ein Zufall sein, so doch ein symbolischer, daß gerade die rheinische Metropole zum Schauplatz solch eines Exzesses wurde. Ausgerechnet Köln. Die Stadt, die ihre Toleranz wie eine Monstranz vor sich herträgt, die sich nicht nur zur Karnevalszeit als „multikulinarisch und multikulturell“ besingen läßt und viel Wert auf ihren Ruf als Heimstadt sexueller Vielfalt legt. 

Ausgerechnet Köln. Mit dem berüchtigten Klüngel, der Politik in Beziehungspflege verwandelte, garniert mit jener charmant als „Rheinisches Grundgesetz“ verbrämten Wurschtigkeit: Es kommt, wie es kommt; es ist noch immer gutgegangen. Nur die größten Zyniker würden diese Sätze im Zusammenhang mit den Vorfällen in der Silvesternacht verwenden. 

Ausgerechnet Köln. Die Medienstadt, in der besonders viele „Kreative“ leben und wirken. In der so vieles, was ihrer Vorstellungswelt und ihrem gesellschaftlichen Wunschbild entspricht, produziert und auf die Leinwände und Mattscheiben der Republik ausgestrahlt wird. Und das so oft so gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte, die ihre Konsumenten alltäglich erlebten. Ausgerechnet Köln.

Und gerade als die Fakten und damit die Brisanz der Vorgänge in der Domstadt nach anfänglichen Vertuschungs- und Verharmlosungsversuchen auf dem Tisch lagen, platzte die nächste Nachricht wie eine Bombe hinein. Der mutmaßliche Islamist, der in Paris eine Polizeiwache angegriffen hatte, lebte zuvor als Asylbewerber in Deutschland und war mehrfach polizeilich aufgefallen. Flüchtlinge und Kriminalität; Flüchtlinge und Terrorismus. Zwei lange von „besorgten“ Politikern und feigen Journalisten sorgsam gepflegte Tabus überlebten den Jahresanfang nicht. 

Den vielbeschworenen und – häufig zu Unrecht – übel beleumundeten Stammtisch mögen diejenigen mit Regierungsverantwortung ja noch links (oder besser: rechts) liegenlassen können. Nicht zu ignorieren ist jedoch der Eßtisch, häufigster Schauplatz innerfamiliären Meinungsaustauschs. Die Empörung über die von der Politik (nicht der Polizei) zu verantwortenden Mißstände hat hier, rechnet man eigene Erfahrungen auf das gesamte Land hoch, erheblich zugenommen. Und zwar gerade unter denjenigen, die dafür bisher nicht besonders anfällig waren. Mit anderen Worten: Wer wissen möchte, wie unsere Republik seit Köln in Sachen Asylkrise so tickt, sollte sich einmal mit Müttern von – vor allem – weiblichen Teenagern unterhalten ... Die Stimmung ist gekippt.