© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Sie werden nicht mehr gehen
Propagandistin der Willkommenskultur: Jenny Erpenbeck hat einen wohlfeilen Flüchtlingsroman vorgelegt
Felix Dirsch

Einen Roman als Gebrauchsliteratur, die offenkundigen Zwecken dienen soll, zu bezeichnen, ist wohl die schärfste Kritik, die man sich vorstellen kann. Jenny Erpenbeck, von vielen hochgelobt und mehrfach ausgezeichnet, macht es ihren Gegnern relativ einfach. Was im gesamten Text evident ist, bekräftigt die 48jährige Autorin am Ende des Buches in aller Deutlichkeit: Sie bedankt sich für die Gespräche, die sie mit Flüchtlingen führen konnte und bittet um Spenden für die Unterbringung der Zugewanderten. Diese sollen kommen, aber nicht mehr gehen.

An keiner Stelle der Schrift gibt es den geringsten Zweifel, daß die Schriftstellerin als Propagandistin der „Willkommenskultur“ auftritt – ein Wort, das beim Abfassen des Buches noch keine Hochkonjunktur gehabt hat, aber zur Zeit des Erscheinens für eine zusätzliche Zahl an Interessenten gesorgt haben dürfte. „Gehen, ging, gegangen“ changiert zwischen Belletristik und Dokumentation.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der emeritierte Altphilologe und ehemalige DDR-Bürger Richard. Verwitwet und kinderlos, scheint er viel freie Zeit zu haben, aber keine Aufgabe mehr, die ihn ausfüllt. Bald kommt er in Kontakt mit den jungen afrikanischen Männern, die auf dem Oranienplatz in Berlin campieren, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Die Besetzer haben die abenteuerliche Überfahrt über das Mittelmeer überstanden und hoffen auf einen Neustart. Der Wunsch ist verständlich. Noch wollen einige bürokratische Formalitäten erledigt werden. Richard hilft nach Kräften bei deren Bewältigung, später lädt er sogar einige seiner Schützlinge in seine Wohnung ein.

In etlichen Dialogen, die Richard mit den Fremden führt, werden ihre Probleme geschildert. Die meisten wollen arbeiten und von dem Lohn leben. Das leuchtet ein, Nichtstun ist auf Dauer kaum befriedigend, besonders in jungen Jahren. Allerdings sind die strukturellen Schwierigkeiten, die sich daraus für die Gesellschaft ergeben, nicht zuletzt die Bereitstellung von ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten für üblicherweise gering oder gar nicht Qualifizierte, der Autorin keine Exkurse wert.

Erpenbeck zeigt noch am ehesten dann Tiefgang, wenn sie ihren Protagonisten im Lichte seiner Erfahrungen mit den Migranten sein Leben reflektieren läßt. Hier zeigt sich ihr literarisches Interesse, das Politische in ganz konkreten Biographien zu spiegeln. Richard sieht sich zur Rechtfertigung seines Lebensstils genötigt. Seine neuen Freunde fragen, warum er alleine lebt, was in deren Heimat eher ungewöhnlich ist. Sie erkundigen sich, warum er keine Nachkommen gezeugt hat. In der vielleicht ergreifendsten Szene des Buches schildert er, wie er seiner verstorbenen Frau, einer Musikerin, in jungen Jahren bei einer illegalen Abtreibung geholfen hat. Es bleibt offen, ob er solche Erlebnisse und Entscheidungen neu bewertet.

Der Holocaust ist präsent

Die politisch überkorrekte Ausrichtung des Romans dürfte selbst Lesern aus dem linksliberalen Establishment peinlich sein. Von den vielen Platitüden seien lediglich die folgenden genannt: „Nur wenn sie [die Flüchtlinge] Deutschland überleben, hatte Hitler den Krieg wirklich verloren.“ Der Holocaust ist an einigen Stellen präsent, ob direkt oder indirekt. Einem Flüchtlingsjungen will Richard nicht erzählen, daß vor einem Menschenalter in Deutschland das „fabrikmäßige Ermorden von Menschen erfunden“ wurde. Immerhin wird so bestätigt, daß das (auch schon vor 2015) widerstandslose Öffnen der Grenzen mentale Hintergründe erkennen läßt, die mit der Rezeption der deutschen Vergangenheit aufs engste verbunden sind. Besonders flach wird es, wenn über die weltweite Güterversorgung nachgedacht wird. „Was in der Welt wächst und fließt, reicht längst schon für alle.“ Jedoch sind Fragen der globalen Verteilung, der unterschiedlichen Herstellung von Lebensmitteln sowie der sehr distinkten internationalen Tauschverhältnisse zu komplex, um sie nebenbei in moralistischer Absicht aufzutischen. 

Wahrscheinlich wird das Flüchtlingsthema noch häufig Gegenstand literarischer Versuche sein. Wer die Schriftstellerszene in Deutschland kennt, darf nicht damit rechnen, daß sich Vertreter der Zunft finden, die dem Hypermoralismus abgeneigt sind. Staatskünstler und Multikulti-Verklärer wie Erpenbeck gibt es hierzulande zuhauf, nonkonformistische Autoren wie Jean Raspail und Michel Houellebecq sucht man hingegen vergebens. Sie müßten, wenn es sie denn gäbe, mit einem Boykott ihrer Schriften durch den Buchhandel, mindestens mit Ausgrenzung rechnen. Dem Gesamturteil eines Rezensenten, Erpenbecks Roman lasse Tendenzen eines „pathologischen Altruismus“ erkennen, ist nichts hinzuzufügen. Man wünscht sich als nächsten Flüchtlingsroman einen, der die vielen Kehrseiten der Willkommenskultur wenigstens im Ansatz berücksichtigt.

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman, Albrecht Knaus Verlag, München 2015, gebunden, 352 Seiten, 19,99 Euro