© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Die Handlung ist wurscht
Kaskaden schönster Musik: Rossinis Oper „Tancredi“ in Mannheim
Markus Brandstetter

Von Gioacchino Rossini kennen die meisten Leute den „Barbier von Sevilla“ und eine Handvoll Ouvertüren, dann ist aber auch schon Schluß. Dabei hat dieser Italiener insgesamt 53 Opern und ganze Bände voll mit Klavierstücken, Kammermusik, Liedern und Messen geschrieben. Aber bis auf den „Barbier“ ist das meiste davon vergessen.

Zu Unrecht, wie man jetzt in Mannheim sehen und hören kann, wo man in der laufenden Spielzeit Rossinis „Tancredi“ ausgegraben hat. Dieser „Tancredi“ wurde 1813 in Venedig uraufgeführt und war Rossinis erster großer Hit. Insbesondere die Auftrittsarie des Tancredi, „Oh patria, di tanti palpiti“ (Oh Vaterland, mit wieviel Herzklopfen), ging um die ganze Welt und wird von Mezzosopranistinnen, die eine zündende Bravourarie suchen, bis zum heutigen Tag noch manchmal gesungen.

„Tancredi“ ist keine komische Oper (Opera buffa) wie der „Barbier,“ sondern eine Opera seria, also eine große, dramatische Oper. Das ist eine Gattung, die uns heute sehr fremd geworden ist. Das merkt man schon am Stoff. Den hat Rossinis Librettist, ein gewisser Gaetano Rossi, sich bei Voltaire geholt, der ihn seinerseits von Goethes Tasso geklaut hatte. 

Die Handlungen der Opera seria haben einige Charakteristika, die einem Hollywood-Film entstammen könnten: Bären, Trojanische Pferde oder Meeresungeheuer spielen tragende Rollen, während als Frauen verkleidete Männer Verwirrung stiften und die Handlung oft erst so richtig in Gang bringen. Es herrschen durchweg große, überzeitliche Gefühle vor, die sich immer um den Widerstreit von Liebe zu einem Menschen mit der Liebe zum Vaterland oder um Konflikte zwischen Familien, Arm und Reich, Alt und Jung drehen. 

So ist das natürlich auch in „Tancredi“. Die Handlung spielt im Jahr 1005 im sizilianischen Stadtstaat Syrakus, also weit entfernt von Rossinis Gegenwart und dem Zensor, der eine Oper durch einen Federstrich verstümmeln, verderben oder gleich ganz verbieten konnte. Die Handlung ist wie in vielen dramatischen Opern – man denke an Verdis „Troubadour“ – unlogisch und absolut unverständlich, aber das macht gar nichts, weil Rossini den ganzen Strudel widerstreitender Gefühle mit Kaskaden schönster Musik überschüttet. Irgendwie merkt man schon, daß da eine Frau zwischen drei Männern steht, daß eine Braut auf väterlichen Wunsch einen Mann heiraten soll, den sie nicht mag, daß der Held Tancredi – eine der größten Hosenrollen in der Operngeschichte – zwischen der Liebe zum Vaterland und zu einer Frau namens Amenaide hin und her gerissen ist, aber im Endeffekt ist alles wurscht: Es herrscht allein die Musik.

Ohne diese allerdings wäre das Ganze furchtbar, denn Regie, Ausstattung und Bühnenbild tun nichts dazu, dem Zuschauer irgendetwas zu erklären. Am mangelnden technischen Aufwand kann das allerdings nicht liegen, denn auf die Bühne fällt richtiger Regen, der Nebel wabert die ganze Zeit, und echte Flammen brennen so oft und so kräftig nur Zentimeter neben Sängern und Chor, daß einem angst und bang wird.

Das Bühnenbild stellt den bekannten Mannheimer Flugzeugträger dar, also das schlachtschiffgraue Unterdeck eines Kriegsschiffes, was mit der Handlung zwar nicht das geringste zu tun hat, aber immerhin Umbauten überflüssig macht. Alles spielt sich auf einem trostlosen wohnzimmergroßen Rechteck ab, das irgendwie die Stadt Syrakus vorstellen soll. Die Kostüme sind auch nicht besser, und man bedauert die Sängerin der Amenaide, die stundenlang in einem knielangen Fummel singen muß, der aussieht, als stammte er von einem Wühltisch aus der Fußgängerzone. 

Die Sänger allerdings sind durchweg ausgezeichnet, insbesondere die koreanische Sopranistin Eunju Kwon gibt eine stimmsichere und überraschend kräftige und dramatische Amenaide (an anderen Abenden ist die Rolle mit der Serbin Tamara Banješevic besetzt), mit der Maria Markinas Tancredi einigermaßen mithalten kann, während der italienische Tenor Filippo Adami als Argirio mehr Wert auf Atemkontrolle legen und sich von seinen Spinto-Allüren verabschieden sollte. 

Das Orchester der Mannheimer Oper gehört zu den besten unter den Opernhäusern aus der zweiten Reihe und wird, hat man sich einmal warmgespielt, was nach der Ouvertüre meist der Fall ist, seiner Aufgabe mehr als gerecht. Die bei Rossini bekannt diffizilen Holzbläserstimmen, die Kombinationen von Klarinette, Oboe, Flöte und Piccolo gelingen gut, während das bekannt gute Mannheimer Blech, insbesondere die Hörner, durch gutes Anblasen, warmen Ton und schöne Kantilenen erfreut. Rubén Dubrovsky ist ein junger, hellwacher Dirigent mit sichtbarer Opernerfahrung, der sich aber bei den dynamischen Gegensätzen und den Tempi durchaus mehr zutrauen dürfte.

Alles in allem bietet Mannheim hier jedoch einen musikalisch und sängerisch sehr überzeugenden „Tancredi“. Aber auch hier zeigt sich wieder eines: Eine Oper, deren Musik vor Einfällen und Melodien nur so sprüht, ist auch durch eine tolpatschige Regie, ein uninspiriertes Bühnenbild und Kostüme zum Davonlaufen nicht totzukriegen.

Die nächsten „Tancredi“-Vorstellungen an der Oper Mannheim, Am Goetheplatz, finden statt am 16. Januar, 17. und 24. März sowie am 15. April. Kartentelefon: 06 21 / 16 80-150

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