© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/16 / 15. Januar 2016

Die eisige Heimat des Teufels
Gulag-Schicksale in Workuta: Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur pflegt das Erbe
Gernot Facius

Die Hölle lag am Polarkreis, etwa 1.800 Kilometer nordöstlich von Moskau. „Heimat des Teufels“ nannten die Russen die Region um das Straflager Workuta. Bis zu sechs Monate war es stockdunkel und erbarmungslos kalt. Um die 50 Grad minus im Winter. Der ehemalige Mathematikprofessor Werner Sperling war als 19jähriger vom Obersten Sowjetischen Militärtribunal in Potsdam zu 25 Jahren Straflager verurteilt und 1951 nach Workuta gebracht worden. Sein Verbrechen: Sperling hatte im Leipziger Umland Flugblätter verteilt und an Hauswände den Buchstaben „F“ geschrieben: „F“ für Freiheit. Ein Mitglied seiner kleinen Widerstandsgruppe, ein Lehrer, war in die Fänge des Staatssicherheitsdienstes geraten. Um seinen Kopf zu retten, verriet er die Namen seiner Freunde. 

Millionen überlebten die Qualen der Gulags nicht

In Workuta mußte Sperling bis zu zwölf Stunden am Tag im Bergbau arbeiten. Wenn er sein Soll nicht erfüllte, gab es Strafen, die ohnehin karge Essenration wurde gekürzt. Vom Tag eins im Gulag existierte er nur noch als L936, so lautete seine Lagernummer. Als Deutscher gehörte Sperling zu den Verfemten, denen man die Schuld am Zweiten Weltkrieg anlastete. Gefürchtet waren die Zählkommandos, „bei denen wir stundenlang in bitterer Kälte uns aufstellen mußten, nur um unsere Nummer zu nennen“. Ende 1953 kam Sperling frei. Vertreter der DDR hatten in Moskau die Freilassung politischer Häftlinge erreicht. Doch in seiner sächsischen Heimat bekam er beruflich keine Chance, die Stasi behielt ihn im Auge. 14 Tage vor dem Mauerbau im August 1961 flüchtete er in den Westen. Die Hölle von Workuta war Geschichte, die Alpträume sind Sperling, der später als Energiewirtschaftler an mehreren Universitäten lehrte, geblieben. 

Lothar Scholz (Jahrgang 1928) leistete von 1948 bis 1955 als Nummer „Tsche 763“ in Workuta Zwangsarbeit. Im Juni 1947 war er in seiner Heimatstadt Fürstenwalde „aus dem Tanzsaal heraus“ verhaftet worden. Er hatte sich dem sowjetischen Geheimdienst, der ihn als Spitzel anwerben wollte, verweigert. Am 14. Dezember, seinem 19. Geburtstag, ist Scholz einer von 50.000 Deutschen, die in der SBZ von Sondertribunalen der roten Besatzungsmacht verurteilt werden. „15 Jahre Zwangsarbeit“ steht auf einem Zettel, groß wie ein Schulheft. 

Von Torgau wird der Verurteilte nach Moskau gebracht und dann weiter nach Workuta. Morgens gab es „heißes Wasser, das sie Tee nannten“, dazu eine Suppe und „Kascha“, ein keksähnliches Hafergebäck. 600 Gramm Brot mußten über den Tag reichen, bis abends wieder eine dünne Brühe mit Kascha verteilt wurde. Und der Arbeitstag dauerte zwölf Stunden. Frei hatten die Häftlinge nur am 1. Mai und am 7. November, dem Revolutionstag. „Ausruhen könnt ihr im 14. Quartal“ lautete der kaltschnäuzige Kommentar der Wachposten, wenn wieder eine der Elendsgestalten zusammenbrach. „14. Quartal“ hieß im Lagerjargon der Friedhof. Endstation für viele. Scholz: „Unter jeder Eisenbahnschwelle liegen quasi zwei Tote.“

Horst Hennig aus Halle (Jahrgang 1934) wurde von den Sowjets Spionage vorgeworfen, weil er für seinen Vater, Mitglied der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“, Botendienste nach West-Berlin unternahm. Er hat 1953, nach Stalins Tod und dem 17. Juni, den Häftlingsaufstand im Lager Nr. 10, das mit dreifachem Stacheldraht und Wachtürmen umzäunt war, erlebt. Bis zum 29. Juli 1953 waren sechs der 17 Abteilungen des Workuta-Komplexes, insgesamt 15.604 Gefangene aus mehreren Nationen, in den Streik getreten, darunter Deutsche, Polen, Balten und Ukrainer. Eine Kommission aus Moskau bot Erleichterungen an: Neun-Stunden-Tag, Besuchserlaubnis für Verwandte, Empfang von Briefen und Geldsendungen aus der Heimat. Doch die Häftlinge bestanden auf einer Amnestie. 

Aufstand von 1953 wurde blutig niedergeschlagen

Am 1. August umstellten Soldaten den Lagerkomplex. Als sich Gefangene unterhakten und mit dem Ruf „In die Freiheit“ in Richtung Ausgang marschieren, fallen Schüsse, abgefeuert von einem Oberst. Zwei Minuten, so genau konnte das Hennigs Leidensgefährte Horst Schüler (Jahrgang 1924) später nicht mehr sagen, rattern Maschinengewehre. Ein offizieller sowjetischer Bericht listet 53 Tote auf, doch das dürfte geschönt sein. „Nach dem Massaker mußten im Lager 10 Gefangene 64 Särge zimmern“, erinnerte sich Schüler, der 1955 nach Deutschland zurückkehren durfte und bis 1989 Redakteur beim Hamburger Abendblatt war; der Theodor-Wolff-Preisträger ist Autor des Bändchens „Vergessene Tote“. Schüler vermutete, daß es einen Befehl aus Moskau gegeben habe, den Streik gewaltsam zu beenden. Nur Stunden nach dem brutalen Vorgang wurde in den Schächten wieder gearbeitet. 

Doch allmählich verbesserte sich die Lage für die Häftlinge. Es begann der mühsame Weg der Entstalinisierung. Der Streik im Lager 10 gilt als der erste große Aufstand im System des Gulag; das Wort steht für „Glavnoe Upravienuje Lagerej“ (Hauptverwaltung der Lager). War es auch der blutigste? Da gehen die Meinungen auseinander. Doch anders als vergleichbare Vorgänge in anderen Lagern ist das Grauen in der Hölle von Workuta gut dokumentiert. 

Daß die Erinnerung daran nicht verblaßt, ist Meinhard Stark, Historiker an der Universität Bonn, zu verdanken. Mehr als 25 Jahre hat er die Biographien von 250 ehemaligen Gulag-Häftlingen und die Zustände in den Lagern erforscht. Etwa 1.200 Stunden erzählter Lebens- und Hafterfahrungen liegen nun digitalisiert vor. Als der Wissenschaftler damit begann, war das ein weitgehend blinder Fleck der Geschichtsschreibung. Stark: „In der Bundesrepublik hat das Thema kaum eine Rolle gespielt, in der DDR durfte man nicht darüber reden.“ Und erst nach 1989 waren viele Opfer des Stalinismus bereit, sich zu öffnen. Stark trug nicht nur Geschichten von Deutschen zusammen, sondern auch von Russen, Polen, Kasachen und Litauern; er ging den Schicksalen von Jugendlichen, die mit 16 ins Lager kamen, und von Kindern, die hinter Stacheldrahtzäunen geboren wurden, nach. Von Opfern, die die Traumata der Gefangenschaft zeitlebens nicht verwanden. 

Bis heute, bedauert der Historiker,  nähmen die schätzungsweise 20 Millionen Menschen, die bis Mitte der 1950er Jahre das sowjetische Lagersystem mit seinen mehr als 200 Standorten, zumeist in den unwirtlichen Gegenden Sibiriens und des Hohen Nordens, durchliefen, „viel zuwenig Raum in der öffentlichen Wahrnehmung ein“. So sah das auch Horst Schüler. Ende 2015 hat Stark seine Sammlung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übergeben. Der neue Archivbestand „Stimme des Gulag“ sorgt dafür, daß die Erinnerung an das „kalte Grausen jenseits des Polar-Kreises“ (Horst Hennig) zumindest für die Geschichtswissenschaft erhalten bleibt.