© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Noch kein Weltuntergang
Prognosen: Der IWF rechnet trotz der Börsencrashs mit 3,4 Prozent Wachstum
Thomas Kirchner

Vor zwei Jahren kostete ein Faß Nordseeöl über 100 Dollar. Ein Jahr später war ein Barrel Brent für 50 Dollar zu haben. Derzeit reichen dafür um die 30 Dollar. Der Erdgaspreis halbierte sich im gleichen Zeitraum. Der Tonnenpreis für Kupfer fiel von 6.500 auf unter 4.500 Euro. Die Notierungen für eine metrische Trockentonne Eisenerz (DMTU) brachen von 110 auf unter 40 Dollar ein. Steinkohle ist statt für 60 schon für 40 bis 45 Dollar im Angebot.

„Anpassung an niedrige Rohstoffpreise“ war daher das Hauptthema des Wirtschaftsausblicks des Internationalen Währungsfonds (IWF) vom Oktober des letzten Jahres. In der Aktualisierung des „World Economic Outlook“ vom Januar senkt der IWF trotz der Börsencrashs und des Absturzes der chinesischen Wirtschaft seine Prognose für das Wirtschaftswachstum nur um 0,2 auf 3,4 Prozent. Die drei wichtigsten Risiken sieht auch der IWF: China, US-Zinserhöhung und schwache Rohstoffpreise. Der Weltuntergang steht nicht vor der Tür, doch es drohen etliche Risiken, auf die der IWF nicht eingeht – allen voran die Währungsturbulenzen. Dank der Weichwährungspolitik der Industrieländer mußten viele Entwicklungsländer abwerten, der Rohstoffpreisverfall verschärft diesen Druck. Venezuela, die Türkei, Nigeria, Vietnam, Ägypten, Kasachstan und China stehen an der Spitze der Abwertungskandidaten. Die Peripherie leidet am stärksten unter dem Keynesianismus der wohlhabenden Industrienationen.

Die Ukraine war 2015 zahlungsunfähig – nur aus geopolitischen Gründen wurde dies nicht an die große Glocke gehängt. Venezuela ist der nächste Pleitekandidat. Der Ölpreisverfall hat dort nicht nur die Inflation auf über 700 Prozent steigen lassen, sondern auch den Petrosozialismus von Hugo Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro die Finanzgrundlage entzogen. Auch der von den USA subventionierte Freistaat Puerto Rico ist dank unbezahlbarer Sozialausgaben zahlungsunfähig. Andere Pleitekandidaten sind Sambia, Belize, Ghana und sogar das ölreiche Angola.

Ein steigender Ölpreis soll nun die Wirtschaft retten

Selbst Deutschland droht ein Schuldenproblem. Wolfgang Schäuble konnte die Finanzierungskosten der Billionenlast durch die Verkürzung der Anleihenlaufzeiten bei der Umschuldung mindern. Höhere Euro-Zinsen wirken sich aber nun wesentlich schneller als in der Vergangenheit auf den Haushalt aus. Staatsschulden sind eigentlich eine Kernkompetenz des IWF, seinen Hauptaktionären will die UN-Sonderorganisation aber offenbar keine Vorträge halten. Auch in der Pharmabranche kann es wie beim Ölpreis kommen: Wenn die Preise für Medikamente sinken, sind Milliarden­investitionen vernichtet. Sollte etwa der demokratische Sozialist Bernie Sanders ins Weiße Haus einziehen und einen Krieg gegen Pharmafirmen ausrufen, droht im größten Medizinmarkt der Welt ein Erdbeben – mit globalen Auswirkungen auf die Branche.

Steuererhöhungen werden von unterschiedlichen politischen Strömungen gefordert. Finanztransaktionssteuern in Europa und nach der US-Wahl auch in Übersee wären das letzte, was die Märkte jetzt brauchen. Doch tendenziöse Studien wie der jüngste Oxfam-Bericht „An Economy for the 1%“ ziehen aus der Behauptung, die 62 vermögendsten Personen würden zusammen genauso viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, den Schluß, Unternehmer und Reiche würden fast keine Steuern zahlen. Aber wie investiert werden soll, wenn Einkommen noch höher besteuert, Erbschafts- oder Vermögenssteuern an die Substanz gehen und jegliche wirtschaftliche Aktivität bald als Indiz von Steuerhinterziehung gilt, bleibt ein Rätsel. 

Die IWF-Rettungskonzepte waren in der Vergangenheit stets mit ruinösen Steuererhöhungen verbunden, durch welche die zu rettenden Länder erst richtig abstürzten. Eine angebotsorientierte Steuerpolitik ist vom IWF dennoch nicht zu erwarten. Nach acht Jahren Niedrigstzinspolitik und Geldschwemme ist die Welt verdreht: Früher galt ein Ölpreisschock als Wirtschaftskiller, heutzutage soll ein steigender Ölpreis die Wirtschaft retten – verkehrte Welt.

Dabei sieht sogar der keynesianische Nobelpreisträger Paul Krugman in niedrigen Ölpreisen eine Gefahr für die Wirtschaft, denn Bergbau und Ölförderung haben sich von reiner Extrahierung zu Hochtechnologiebranchen mit computergestützten seismischen Analysen und komplizierten chemischen Prozessen gewandelt. Die Wertschöpfung entsteht so in Dienstleitungen, die eher in Hochindustrieländern angesiedelt sind. Planung und Bau einer Mine können ein paar Milliarden verschlingen, bevor die erste Tonne Mineral gefördert wird, wovon nur ein kleiner Teil in den rohstoffreichen Entwicklungsländern anfällt.

Der IWF wäre gut beraten, nicht nur strukturelle Reformen, sondern auch Schuldenabbau und Steuersenkungen zu fordern, immerhin ein erprobtes Mittel zur Stärkung der Wirtschaft. Doch an der IWF-Spitze steht seit 2011 die Französin Christine Lagarde, zuvor unter dem wenig reformfreudigen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy Wirtschafts- und Finanzministerin. IWF-Chefvolkswirt ist Lagardes anglophiler Landsmann Olivier Blanchard, ein dezidierter Neokeynesianer, der schon 2010 in seinem Appell „Rethinking Macroeconomic Policy“ (Wirtschaftspolitik neu durchdenken) mehr statt weniger Staat forderte: höhere Verschuldungsgrenzen für Konjunkturprogramme, eine expansive Geldpolitik und ein höheres Inflationsziel, Kapitalverkehrskontrollen und Interventionen am Devisenmarkt.

Aktualisierter Bericht „World Economic Outlook“ des Internationalen Währungsfonds:  www.imf.org