© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Aufbruch nach dem Ende der Geschichte
Der Mainzer Historiker Andreas Rödder gibt einen profunden Überblick über die Gegenwartshistorie
Peter Michael Seidel

Selten gibt es für einen Rezensenten Anlaß, eine Neuerscheinung nahezu uneingeschränkt zu loben. Andreas Rödders Betrachtung „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ gehört zu diesen seltenen Büchern. Gerade nach den Anschlägen von Paris sollte darauf zugegriffen werden, da uns die bekannten Probleme der Gegenwart in Zukunft verstärkt beschäftigen werden.

Der Mainzer Geschichtsprofessor ist einem größeren Leserkreis spätestens seit seiner gelungenen Geschichte der Wiedervereinigung bekannt, die 2009 erschien. Jetzt hat er sich darangemacht, „einen Crashkurs durch die Grundprobleme unserer Zeit“ und „die aktuellen Lösungsstrategien mit ihren erkennbaren Vor- und Nachteilen“ zu geben. Dieser Überblick ist breit angelegt, geht aber auch in die Tiefe und bietet so zahlreiche Anregungen für eigenes weiterführendes Denken. 

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel und „resümierende Überlegungen“. Besonders interessant ist das erste Kapitel, das sich mit den Anfängen und der internationalen Entwicklung der digitalen Revolution beschäftigt und so eingängige Erklärungen über unsere heutigen Lebensumstände abgibt. In den Kapiteln III, IV, V und VI setzt Rödder sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen seit Beginn der zweiten Globalisierung Mitte der siebziger Jahre auseinander. 

Von besonderem Interesse sind aber die Kapitel II und VII, die sich mit der globalen Wirtschaft, mit Europa beziehungsweise mit „Weltpolitik und Weltgesellschaft seit 1990“ beschäftigen: Im Wirtschaftskapitel werden dabei so zentrale Fragen wie der Neoliberalismus, die Ursachen der Weltfinanzkrise, aber auch die Konsequenzen gerade auch für Deutschland, sachkundig behandelt. Das Kapitel über die Weltpolitik beschäftigt sich mit den ordnungspolitischen Erwartungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, dem „Menschenrechtsimperialismus“ und der „Rückkehr klassischer Macht- und Militärpolitik“ in Europa. Bei der Beantwortung der selbstgestellten Frage, wer oder was die Welt regiert, hält er sich allerdings auffallend zurück.

Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ widerlegt

Wer wissen will, wie die Welt heute im Kern funktioniert und von welchen Bedingungen dies abhängig ist, für den können Rödders Analysen hilfreich sein. Denn spätestens nach den Anschlägen von Paris dürfte auch in Europa die Erkenntnis Platz greifen, daß es mit Francis Fukuyamas schöner These vom „Ende der Geschichte“ aus dem Jahre 1990 endgültig vorbei ist, daß die internationalen Beziehungen 25 Jahre später zunehmend unsere Welt prägen und man dies in Europa nur zum eigenen Schaden ignorieren kann. Oder um es mit den Worten Rödders zu sagen: „Das ‘alte Europa’ hatte die besonderen Erfahrungen der europäischen Integration (...) auch auf die Wahrnehmung der Lage jenseits der eigenen Grenzen übertragen. (...) Die Realität aber war komplexer, als es die Hoffnung auf eine weltweite demokratisch-prowestliche Konvergenz wahrhaben wollte.“ Er belegt dies nicht nur mit vielen Beispielen, er beschäftigt sich auch grundsätzlich damit. Und das macht diese Kapitel so zentral! 

Im Zentrum steht dabei die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen der realistischen und der idealistischen Weltbetrachtung „mit völlig unterschiedlichen Antworten“. Denn für erstere bestimmen Macht und nationale Interessen die Außenpolitik, für letztere internationale Organisationen und die Vorstellung von einer Weltgesellschaft. Allerdings ist die Schlußfolgerung, die Rödder daraus zieht, dann doch überraschend. Für ihn handelt es sich dabei „um eine Glaubensfrage, in die empirische und normative Ebenen ineinanderfließen, was auf beiden Seiten zu Sichtbeschränkungen führt“. Dies ist natürlich nicht ganz falsch, sagt aber noch lange nichts darüber aus, welche Sichtweise heutzutage adäquater sein dürfte. 

Rödder legt sich hier, auch unter Verweis auf die grundsätzliche Offenheit der Geschichte, nicht fest, doch wird deutlich, daß er – zumal als Historiker  – eher kein Anhänger einer idealisierenden Weltsicht ist. In seinen resümierenden Überlegungen kommt er dann zu einem logischen Schluß, dem man zustimmen kann: „Was als Kompaß hilft, ist Offenheit statt Selbstgewißheit. Das gilt für unvorhergesehene Gefahren, für neue Bedrohungen der Freiheit und für unerwartete Konflikte.“ Und deshalb sei es das beste, „wenn sich neue Ideen mit dem Sinn für die Realitäten verbinden“. 

Dieser Duktus zieht sich durch das ganze Buch und macht es im besten Sinne aufklärend und ansprechend. Er steht damit in einer noch jungen Tradition von Neuerscheinungen, die gerade 2015 auf dem deutschen Büchermarkt Aufsehen erregten, und für die Namen wie Michael Hüther, Herfried Münkler oder Martin Winter stehen. Allerdings gibt es auch ein paar Wermutstropfen: Viele unübersetzte Zitate erinnern an das bildungsbürgerliche 19. Jahrhundert, zu viele überflüssige Anglizismen ärgern auf Dauer einfach nur, und ob der Titel „21.0“ mehr ist als ein Marketinggag mag der Leser selbst entscheiden. Ansonsten ist es wirklich ein grundlegendes, ein lesenswertes Buch.

Andreas Rödder: 21.0 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Verlag C.H. Beck, München 2015, gebunden, 494 Seiten, 24,95 Euro

Foto: Staatengemeinschaft kaum zu fassen: Gegenwart ist von völlig unterschiedlichen Antworten geprägt