© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

„Den Dingen auf den Grund gehen“
Etablierte Medien zeigen bevorzugt die „Sonnenseite“ der Einwanderung. Alternative Medien verbreiten üble Gerüchte über Flüchtlinge als Tatsachen. Wo liegt die Wahrheit? Journalisten des Westfalen-Blattes bieten einen „Gerüchte-Check“, um Spreu und Weizen zu trennen
Moritz Schwarz

Herr Althoff, fünfzig Gerüchte über Mißstände in Zusammenhang mit Asylbewerbern hat das „Westfalen-Blatt“ überprüft. Wie viele davon waren wahr?

Althoff: Lediglich zwei.

Das heißt, neben den massiven Problemen in Zusammenhang mit der Einwanderung existiert auch ein nicht unerhebliches Problem der üblen Nachrede?

Althoff: Das ist das, was unser „Gerüchte-Check“ ergeben hat, ja.

Hat Sie dieses Ergebnis überrascht?

Althoff: Nein, denn die meisten Gerüchte erschienen bereits auf den ersten Blick so absurd, daß man annehmen konnte, daß sie nicht stimmen.

Dann sind Sie also nicht unvoreingenommen an deren Überprüfung gegangen?

Althoff: Doch. Ich wäre der letzte, der Mißstände in Zusammenhang mit Flüchtlingen verschweigen würde. Meine Aufgabe ist es nicht, mich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, sondern möglichst sachlich zu berichten.

Aber will Ihr „Gerüchte-Check zum Thema Flüchtlinge“ nicht der Sache der Einwanderer dienen, indem er sie von ungerechten Anschuldigungen entlastet?

Althoff: Nein, das ist nicht unser Ansatz. Es geht uns ebensowenig darum, jemanden zu entlasten, wie darum, jemanden zu belasten. Wir berichten selbstverständlich auch über Straftaten oder andere Probleme, die möglicherweise durch den Zuzug entstehen. Wir wollen den Dingen auf den Grund gehen.

Wie kam es zu Ihrem „Gerüchte-Check“?

Althoff: Als hier vor einem Jahr in einer Polizeischule die ersten Flüchtlinge untergebracht wurden, verbreitete sich das Gerücht, in den Unterkünften grassiere Tuberkulose, und die Bewohner demolierten die Einrichtung. Wir gingen dem nach und stellten fest, daß die Behauptungen jeder Grundlage entbehrten, wie bei vielen anderen Gerüchten, denen wir nachgingen. Dann postete im Herbst der Hamburger Anwalt und Blogger Joa­chim Steinhöfel, die Herforder Polizei vertusche vorsätzlich die Vergewaltigung einer Rot-Kreuz-Mitarbeiterin durch einen Flüchtling. Unsere Recherchen ergaben jedoch, daß das nicht den Tatsachen entsprach. Das war der Anlaß zum Start des „Gerüchte-Checks“.

Steinhöfel beruft sich allerdings auf einen Informanten, auf den er sich hundertprozentig verlassen könne.

Althoff: Steinhöfels angebliche Rot-Kreuz-Helferin ist tatsächlich AWO-Mitarbeiterin – wenn schon so ein Detail nicht stimmt ... Doch auch der Rest hat sich als nicht zutreffend erwiesen: Der Täter hat die Frau nicht vergewaltigt, sondern zu sexuellen Handlungen aufgefordert. Daraufhin hat sie die Polizei gerufen, die den Mann festnahm.

Steinhöfel ist nicht irgendwer, sondern Rechtsanwalt und Ex-Fernsehmoderator, eine Person des öffentlichen Lebens. Warum sollte er eine falsche Darstellung verbreiten?

Althoff: Gegenfrage: Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln gegen den jugendlichen Täter. Welchen Grund sollten sie haben, nicht wegen Vergewaltigung zu ermitteln, wenn es die gegeben hätte?

Das heißt, Sie vertrauen der Polizei?

Althoff: In dieser Hinsicht, ja.

Ist das nach Köln noch möglich?

Althoff: Die Silvesterereignisse dort werfen tatsächlich kein gutes Licht auf die Polizei und bestätigen zum Teil unsere Erfahrungen.

Nämlich?

Althoff: Manche Polizeibehörden halten Informationen zurück. Das scheint sich allerdings nach Köln zu ändern.

Warum wurden Informationen zurückgehalten?

Althoff: Da kann ich nur spekulieren. Vielleicht war es vorauseilender Gehorsam, weil man nicht in politische Fettnäpfchen treten wollte.

Warum vertrauen Sie der Polizei dann?

Althoff: Weil sie, sobald man gezielt nach einem bestimmten Vorfall fragt, die Karten auf den Tisch legt.

Können Sie da wirklich sicher sein?

Althoff: Das sind meine Erfahrungen.

Zeitungen der Madsack-Gruppe zitieren hohe Polizeibeamte, danach werde auf Anweisung der Politik in Polizeiberichten „kaschiert, weggedrückt und umbe-nannt“. In der „Bild“ sprach ein weiterer hoher Beamter von der „strikten Anweisung der Behördenleitung, über Vergehen von Flüchtlingen nicht zu berichten“. Und der Journalist Dieter Wonka bestätigte im ZDF die Existenz einer Politik, die „auch vom Bundesinnenministerium“ aus „nach unten durchgestellt wird, die Flüchtlinge als Täter raushalten soll“.

Althoff: Das bestätigt doch, was ich eben gesagt habe. Presseberichte der Polizei werden gelegentlich geschönt, ja.

Ist das nicht skandalös?

Althoff: Mag sein, aber ich schreie da nicht „Skandal!“, sondern versuche zu recherchieren, wie es wirklich war, und stelle die Behörde damit möglicherweise bloß. Damit habe ich doch viel mehr erreicht. Die Frage, ob es skandalös ist, halte ich nicht für so entscheidend. Der Punkt ist, daß es politisch ist – und das sollte es nicht sein. Allerdings: Presseberichte sind eine Sache – daß aber tatsächlich Anzeigen manipuliert werden, glaube ich nicht.

Ist das angesichts des offenbar immensen politischen Drucks, der in den Zitaten zum Ausdruck kommt, wirklich ausgeschlossen?

Althoff: Nehmen Sie den genannten Herforder Fall: Im Prozeß wird das Opfer eine Aussage machen. Würde die Frau dann glaubhaft von einer Vergewaltigung sprechen, stünden Polizei und Staatsanwaltschaft sehr schlecht da. Nein, ich glaube nicht, daß Anzeigen hinsichtlich der vorgeworfenen Taten systematisch manipuliert werden.

2015 deckten Sie den Fall eines 13jährigen Mädchens auf, dessen Vergewaltigung durch Flüchtlinge von der Polizei verschwiegen wurde.

Althoff: Richtig, die Tat tauchte in keinem Polizeibericht auf. Sie blieb wochenlang unter der Decke, bis ich einen Tip bekam.

Sie haben also doch selbst schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht.

Althoff: Zunächst stellte ich eine Anfrage an die Polizei, die nicht wußte, daß wir informiert waren, und fragte nach Delikten rund um die betreffende Asyl­unterkunft. In der Antwort wurde die Tat erneut mit keinem Wort erwähnt. Erst als ich schließlich gezielt nach dem Fall fragte, bekam ich die Auskünfte.

Sie überprüfen die Gerüchte also, indem Sie bei der Polizei nachfragen?

Althoff: Ja, beziehungsweise bei den Einrichtungen, die betroffen sind. Zum Beispiel das Gerücht, Asylbewerber hätten vor einem Supermarkt palettenweise Wasserflaschen ausgeleert, um dann das Pfand einzulösen. Die Nachfrage bei der Pressestelle der Supermarktkette und bei der Leitung des angeblich betroffenen Marktes ergab, daß dort von einem solchen Vorfall nichts bekannt war.

Wie können Sie sicher sein, daß Sie ehrliche Antworten erhalten?

Althoff: Man kann natürlich immer alles in Zweifel ziehen, aber mal ehrlich: Welchen Grund hätte ein Unternehmen, uns in so einem Fall zu belügen? Wenn möglich, recherchieren wir natürlich bei mehreren Stellen. Im Herforder Fall fragten wir bei Polizei, Staatsanwaltschaft, Kreisverwaltung, AWO und dem Roten Kreuz nach. Übrigens ist mancher sogar froh, wenn wir uns melden. Denn oft werden Betroffene, zum Beispiel die Inhaber von Läden, in denen Flüchtlinge randaliert haben sollen, von Bürgern immer wieder auf die vermeintlichen Geschehnisse angesprochen und sind viel damit beschäftigt, diese zu dementieren. Klar, daß die dankbar sind, wenn wir dazu beitragen, das Gerücht einzuordnen.

Wie reagieren die Leser angesichts dessen, daß nach Ihren Recherchen kaum ein Gerücht zutrifft?

Althoff: Unterschiedlich. Viele finden es positiv, Klarheit über einen Fall zu bekommen. Einige aber schlußfolgern, daß wir mit denen unter einer Decke stecken, die den angeblichen Vorfall bisher schon zu vertuschen versucht haben.

Unlängst hat die WDR-Journalistin Claudia Zimmermann in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ offenbart: „Ich habe das (stets) so empfunden, daß man (über Flüchtlinge) nicht allzu kritisch berichten soll ... Unausgesprochen haben sich fast alle Journalisten einen Maulkorb auferlegt ... Wir haben alle die Tatsachen verschwiegen.“ Ist es angesichts dessen nicht kaum verwunderlich, daß einige Bürger eher Gerüchten als den Journalisten glauben?

Althoff: Ich würde weder verallgemeinernd von „den“ Bürgern noch von „den“ Journalisten sprechen wollen. Ich glaube schon, daß es viele Journalisten gibt, die das gesamte Flüchtlingsthema im vergangenen Jahr nur durch eine rosarote Brille sehen wollten, was ich für falsch halte. Unser Flüchtlingsgerüchte-Check sollte ja gerade dazu dienen, für ein wenig mehr Transparenz zu sorgen. Übrigens: Die Leser, die uns nicht glaubten, baten wir, uns ihre Quelle zu nennen, um dort weiter recherchieren zu können – aber wir haben nie eine Antwort bekommen.

Haben Sie jedes gemeldete Gerücht überprüft?

Althoff: Natürlich – hätten wir selektiert, hätten wir uns dem Vorwurf der Voreingenommenheit ausgesetzt.

Hätten Sie auch ein so offensichtlich absurdes Gerücht, wie etwa das derzeit auf Youtube zirkulierende, wonach Einwanderer ein kleines Mädchen lebendigen Leibes gegessen hätten, überprüft?

Althoff: Davon habe ich nichts gehört, aber wenn uns ein Leser das Gerücht gemeldet hätte, wären wir auch dieser Sache nachgegangen.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk stimmten Sie der These zu, wonach Gerüchte gegen Flüchtlinge gezielt verbreitet werden. Woher wissen Sie das?

Althoff: Wir überprüfen zwar nur die Richtigkeit der Gerüchte, nicht deren Ursprung und Genese, was auch kaum möglich sein dürfte. Uns hat allerdings eine erfahrene Psychologin zum Thema Gerüchte erklärt, daß meistens jemand bewußt etwas Unwahres in die Welt setzt, das oft beim Weitererzählen immer mehr aufgebauscht wird. 

Eben – liegt es nicht ebenso nahe, daß Gerüchte auch unfreiwillig nach dem Prinzip Stille Post entstehen? In Ihrem DLF-Gespräch kam diese Möglichkeit jedoch nicht vor. Haben Sie damit vielleicht geholfen, selbst ein Gerücht zu produzieren, nämlich dahinter stehe stets böser Wille, statt mitunter Irrtum? 

Althoff: Wie gesagt, ich kann letztlich nichts dazu sagen, wie die Gerüchte entstehen. Ich weiß auch nicht, ob die Leute, die sie weitererzählen, böse Absichten haben. Manche Gerüchte haben ja durchaus einen wahren Kern, weichen dann aber an zentraler Stelle von der Wahrheit ab.  

Wenn Politik, Polizei und Medien so manipulativ mit der Wahrheit umgehen wie oben erörtert, tragen diese dann nicht wesentlich dazu bei, daß die Bürger anfällig für Gerüchte werden?

Althoff: Da ist etwas dran. Nehmen Sie den Fall eines kleinen Mädchens, das auf dem Schulweg von einem Flüchtling geküßt wurde und sich darüber fürchterlich erschrocken hat. Dadurch, daß die Polizei dieses Geschehen verheimlicht hat, hat die Geschichte ein Eigenleben entwickelt. Als sie mich erreichte, war aus dem Kuß bereits eine Vergewaltigung geworden. Hätte die Polizei die Angelegenheit nicht verschwiegen, wäre das Gerücht wohl gar nicht erst entstanden. Am besten wirkt Gerüchten entgegen, wer Fakten sofort und ungefragt bekanntgibt. 






Christian Althoff ist Reporter des Westfalen-Blattes in Bielefeld, das eine Auflage von 115.000 Exemplaren hat. Geboren wurde der Journalist, der zuvor bei der Bild-Zeitung war, 1962 in Herford.

Foto: Üble Nachrede: „Dadurch, daß die Polizei das Geschehen verheimlicht hat, hat die Geschichte ein Eigenleben entwickelt. Als sie mich erreichte, war aus einem Kuß bereits eine Vergewaltigung geworden. Hätten die Behörden die Angelegenheit nicht verschwiegen, wäre das Gerücht wohl gar nicht erst entstanden.“ 

 

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