© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Grüße aus Moskau
Worte in den Wind
Thomas Fasbender

Kein Winter, der in Moskau nicht für Überraschungen sorgt. Kaum fällt der erste richtige Schnee, so bricht der Verkehr zusammen, als hätten die Autofahrer noch nie gesehen, was da so weiß vom Himmel rieselt. Im Verlauf häufen sich die Herausforderungen. Festgebackene, meterhohe Schneewälle am Straßenrand, überforderte Räumfahrzeuge und Auffahrunfälle allenthalben. Daß die havarierten Fahrzeuge bis zum Eintreffen der Polizei nicht aus dem Weg geräumt werden dürfen, macht alles noch schlimmer.

Vergangene Woche war die Lage nicht nur für Autofahrer katastrophal. Eine Warmfront aus Westen schob Schneewolken über die Stadt. In einer Nacht fiel weit über ein Drittel des durchschnittlichen Niederschlags im Januar. Gleichzeitig sprang die Temperatur von fast minus zwanzig auf über null Grad. Die Folge: eine zweifingerdicke Eisschicht auf Straßen und Bürgersteigen, vor den Metroausgängen und auf den Stufen der Moskwa-Brücken.

Ausnahmesituationen  ohne Verschwörungstheorien im Gefolge – unvorstellbar.

Während einiger Stunden waren Autofahrer und Fußgänger buchstäblich auf sich allein gestellt. Die Stadtverwaltung konnte nur noch hilflos bitten, in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Das Fernsehen zeigte alte Menschen, die mit leerem Blick auf dem Eis saßen und sich von niemandem aufhelfen ließen. Es gab kein Fortkommen mehr.

Die Autofahrer blieben besonnen. Mit 961 Unfällen im Stadtgebiet und 28 Verletzten fiel der Tag des jüngsten Schneechaos nicht einmal aus dem Rahmen. Über die Maßen beschäftigt war das Personal der Polikliniken. Am Samstag regnete es dann bei stabilen null bis zwei Grad plus. Die Woche hatte etwas von den ägyptischen Plagen: eisiger Frost, Rekord-Schneefall, Tauwetter und Regen in Folge.

Unvorstellbar, daß eine derartige Ausnahmesituation eintritt ohne allfällige Verschwörungstheorien im Gefolge. Seit dem Amtsantritt des Bürgermeisters Sergej Sobjanin 2010 wird der Asphalt auf den Moskauer Trottoirs gegen Fliesenbelag ausgetauscht. Die Maßnahme ist teuer und umstritten. Obendrein hält sich zäh das Gerücht, Sobjanins Ehefrau sei Aktionärin einer Fliesenfabrik im Ural. Kein Wunder, daß es sofort hieß, auf den vereisten Fliesen rutsche es sich weitaus tückischer als auf vereistem Asphalt. Der Atmosphärenphysiker Alexander Ginsburg hielt dagegen: Jeden Tag gehe er über neue Fliesen und über alten Asphalt – es gebe keinen Unterschied. Worte in den Wind.