© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Das Maskottchen gibt sich streberhaft
Literatur: Durs Grünbeins Kindheits- und Jugenderinnerungen sind ein ernüchternd biederes Buch
Doris Neujahr

Die Kindheits- und Jugenderinnerungen des Lyrikers und Essayisten Durs Grünbein sind vor allem aus außerliterarischen Gründen von Interesse. Der gebürtige Dresdner hat sich anläßlich von Pegida verächtlich, ja haßerfüllt über seine Heimatstadt geäußert, was die Frage aufwirft, welche Verwundungen der Kinder- und Pubertätszeit seine affektiven Reaktionen wohl bestimmen.

Der Titel „Jahre im Zoo“ ist programmatisch und ein Gleichnis für die Einsperrung im abgezäunten SED-Staat. Schon in Grünbeins 1994 erschienenem Band „Falten und Fallen“ gibt es drei Zoogedichte. Als weitere Referenzgröße hat man sich natürlich Rilkes „Panther“ zu denken: das edle Tier, dem die auferlegte Gefangenschaft zum Bestandteil des Selbst wird. Solche literarischen und werkimmanenten Bezüge müssen bei der Lektüre von Grünbeins Buch stets im Hinterkopf sein.

Neigung zu Altklugheit und prätentiösen Banalitäten

Der Autor wurde 1962 geboren. Die erzählte Zeit reicht bis zu seiner Einberufung zur Armee Anfang der 1980er Jahre. Die Erinnerungen sind chronologisch geordnet, ohne sich zu einer im strengen Sinne chronologischen Erzählung zu fügen. Grünbein nennt sie „ein Kaleidoskop“, nach dem optischen Spielzeug, dessen Kristalle ständig neue Muster bilden. Was wohl heißen soll, daß der Blick und der Bedeutungsgehalt der Erlebnisse sich mit der Zeit stetig ändern und der Autor das Recht hat, sie mit nachträglichen Assoziationen und Reflexionen zu verbinden.

Eindrückliche Passagen sind ihm besonders über die frühe Kindheit gelungen. „Aufgewachsen bin ich in einem alten Dresdner Mietshaus, das der Krieg begnadigt hatte; es gehörte jedenfalls nicht zu den zwanzig Prozent, die über  Nacht wie vom Erdboden verschluckt wurden“, beginnt er dieses Kapitel. Aus dem Fischladen im Erdgeschoß des Wohnhauses roch es modrig nach Mangelwirtschaft und Ersatzprodukten statt nach Frischfisch. Fein geschildert sind die Spaziergänge mit dem Großvater an der Elbe, die zum Ostragehege führten, einer Auenlandschaft, deren goldgetöntes Licht Grünbein später auf einem Bild von Caspar David Friedrich in der Gemäldegalerie wiederfindet. An Stellen wie diesen wird die Bedeutung früher Eindrücke für die spätere Entwicklung ohne weiteres einsichtig. 

Das Verfahren erinnert an Walter Benjamins „Berliner Kindheit“, wo sich ebenfalls frühe Erinnerungen und Impressionen mit der Erkundung des Genius loci verbinden. Das Risiko, die Kindheit nachträglich zu überfrachten, ist freilich groß. Und Grünbein hat seit jeher eine Neigung zur Altklugheit, zur peremptorischen Behauptung großer Einsichten, die er weder durch Erfahrungen noch Originalität beglaubigt und deshalb zu prätentiösen Banalitäten geraten.

Man erfährt erstaunlich wenig über sein Inneres. Er ist weder ein großer Erzähler noch Menschengestalter oder Psychologe. Er wuchs, soviel kann man dem Buch entnehmen, als ein sensibles, grüblerisches Einzelkind auf, spürte früh eine Distanz zu den Gleichaltrigen, ohne ein ausgesprochener Außenseiter zu sein. Er schloß Freundschaften, fürchtete einen größeren Nachbarjungen, spielte Indianer und erkundete Müllplätze. Nichts davon fällt aus dem Rahmen und rechtfertigt die Charakterisierung der frühen Kindheit als „im Zoo“ verbracht.

Mit dem Umzug der Familie in die ehemalige, um 1900 gegründete Künstlersiedlung Hellerau, die seinerzeit als ein „Klein-Europa“ galt und mit der sich Namen wie Benn, Claudel, Kokoschka und Shaw verbanden, weitet sich der Bewußtseinshorizont und wird die räumliche und geistige Enge der Verhältnisse tatsächlich fühlbar. Es kam vor, daß sein Englischlehrer ausrief: „Stellt euch vor, hier hat Rainer Maria Rilke über den Zaun geschaut!“ Doch anstatt eine persönliche Bildungsgeschichte zu entfalten, breitet Grünbein meistens nur Lexikonwissen aus und ergänzt es durch geschichtsbetroffene Fußnoten. Das sieht er freilich ganz anders und spricht von seinem „Eintreten in das geschichtliche Feld“. Zum überzogenen Pathos paßt die vom Lektor übersehene Stilblüte: „(...) ich mußte die Bilder, die Zahlen und Dokumente durchqueren, um zu mir zu kommen“. 

Mehr streberhaft als überzeugend wirkt auch die Schilderung der geistig-literarischen Initiation, die er als 16jähriger in Budapest durch eine West-Ausgabe von Kafkas „Briefe an Felice“ erlebt haben will. Ausgerechnet das beklemmende Psychodrama um Kafkas Verlobung, das bei Elias Canetti spontan „Peinlichkeit und Beschämung“ auslöste, hätte ihm zu Glücks- und Freiheitsgefühlen verholfen. Es geht Grünbein wohl eher um Dramaturgie als um biographische Genauigkeit, denn nach der Lektüre trifft er in der Großen Synagoge von Budapest auf eine amerikanische Besuchergruppe und nimmt auf dem Unterarm einer Frau eine eintätowierte „Auschwitz-Nummer“ wahr: ein rückdatierter Eintritt in die bundesdeutsche Zivilreligion unter der Kafka-Ikone.

Mit bedeutungsvoller Geste sein Halbwissen offenbart

Bei Grünbein heißt Ungarn „bunteste Baracke des Ostblocks“. Die in der DDR gängige Redewendung  lautete aber „bunteste (lustigste) Baracke im sozialistischen Lager“.  Das „sozialistische Lager“ war eine presseamtliche Bezeichnung. In Verbindung mit der „Baracke“ assoziierte sie Gefangenschaft und KZ. Ausgerechnet diesen bitteren Wortwitz aus dem Volksmund unterschlägt der feinsinnige Poet, der damit fälschlich die Exklusivität seiner Freiheitssehnsucht und den Solitärcharakter seiner kritischen Einsichten zum SED-Staat behauptet.

Ein gewisser Narzißmus ist eine Voraussetzung allen Künstlertums und wäre auch bei Grünbein kaum erwähnenswert, wenn er nicht immer wieder mit bedeutungsvoller Geste sein Halbwissen offenbaren würde. Er gibt vor, das „geschichtliche Feld“ zu durchmessen und irrt darauf doch nur umher. Wenn sein Vorbild Heiner Müller über Politik und Geschichte meditierte, stand dahinter die Dimension des Weltbürgerkriegs, der das 20. Jahrhundert determinierte. Aus Grünbeins Äußerungen lugt bloß der Zeigefinger aus der Bundeszentrale für politische Bildung hervor. Davon zeugen so einfallslose („brauner Sumpf“) wie mißglückte („torkelnde Wochen nach dem Überfall auf die Sowjet-

union“) Formulierungen. In einem der eingefügten Gedichte heißt es: „Hitlers Hände, eunuchenweich“. Das gilt erst für die letzten Monate des Diktators, als er offen an Parkinson litt. Vorher ging – laut seinem Biographen Ian Kershaw – von Hitlers „berühmtem Händedruck“ und dem Blick seiner „stahlblauen Augen“ eine suggestive Kraft aus. Im Zusammenhang mit dem bei der Röhm-Affäre am 30. Juni 1934 erschossenen Ex-Kanzler Kurt von Schleicher heißt es, exklusiv in Klammern gesetzt: „(zurück blieb die elegante Gattin)“. Stimmt nicht, auch Elisabeth von Schleicher fiel dem Mordkommando zum Opfer!

Insgesamt ist es kein schlechtes, nur ein ernüchternd biederes Buch, und man kommt ins Grübeln, wie Grünbeins langjährige Rolle als Spitzen-Maskottchen des bundesdeutschen Kulturbetriebs zu erklären ist. Vielleicht damit, daß er, aus der DDR kommend, ihn nie in Frage gestellt, sondern bestätigt hat. Mit seinem unbestreitbaren Sprachtalent hat er das geistige Mobiliar der Bundesrepublik beglaubigt und veredelt, ohne zu bemerken und zu reflektieren, wie wurmstichig es 1989 schon war. Jetzt wird es ausrangiert. Nicht von den armen Pegidisten, gegen die Grünbein giftet, sondern durch die epochalen Ereignisse, die gerade stattfinden. Grünbein prügelt bloß das Barometer, das den Sturm anzeigt. 

Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen sind der erwartbare Leistungsnachweis eines erfolgreichen Kulturbetriebsangestellten.

Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop. Suhrkamp, Berlin 2015, gebunden, 400 Seiten, 24,95 Euro