© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Die Deutschen scheuen vor dem K-Wort
Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler über den Gestaltwandel des modernen Krieges
Günther Deschner

Der als ordentlicher Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrende Wissenschaftler und Autor Herfried Winkler (64) zählt zu den einflußreichsten Politologen und Politikberatern in Deutschland – und zu den produktivsten Autoren. Bereits seine Dissertation über „Machiavelli – Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit“ und seine Habilitationsschrift zum Thema „Staatsraison. Leitbegriff der Frühen Neuzeit“ waren richtungweisend für sein späteres Schaffen und seine Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Kulturforschung, Ideengeschichte, Kriegsgeschichte, Kriegstheorie und Sicherheitspolitik. 

Münkler beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gestaltwandel des modernen Krieges. In seinem neuesten Buch „Kriegssplitter“ über die „Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert“ faßt er seine bisherigen Überlegungen zusammen und bringt sie auf den neuesten Stand.

Münkler kann dabei aus dem vollen seiner eigenen Arbeiten schöpfen – und er tut es auch ungeniert. Den wichtigsten Begriff, den der „neuen“ Kriege, hatte er schon 2002, unmittelbar nach „9/11“, in seinem gleichnamigen Buch entwickelt; er kehrt nun aktualisiert wieder. Und seine große Studie über den Ersten Weltkrieg, die zum Bestseller wurde („Der große Krieg“, JF 7/14) trägt hier doppelt Früchte: Denn die beiden wichtigsten Konflikträume der Gegenwart, Osteuropa/Ukraine/Kaukasus und der vordere Orient, sind für Münkler das Ergebnis „ungelöster Fragen“, die 1918 der Zerfall Rußlands und die Zerschlagung der Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und des Osmanischen Reichs durch die siegesberauschten Westmächte Frankreich und Großbritannien bei den Pariser Vorortverträgen Trianon und Sèvres aufwarfen. 

Der Krieg ist nicht verschwunden, sondern wird nach anderen Regeln geführt als früher, so Münkler in seinem neuen Buch „über die deutsche Scheu vor dem K-Wort und die Strategie des Terrorismus, einen dritten Begriff zwischen Krieg und Frieden zu etablieren“. An die Stelle von Schlachtfeldern und Bombenhagel mit Millionen von Toten werden die Kämpfe heute an der Peripherie der Wohlstandszonen ausgetragen – gleich mit dem gezielten Einsatz von privaten Söldnern und flächendeckender Überwachung. 

Der Staat ist nicht mehr Herr über Bilder und Nachrichten im Internet, die Schrecken verbreiten sollen. Die geopolitischen Konfliktlinien verlaufen nur noch selten entlang staatlicher und/oder natürlicher Grenzen. Es geht um die Konkurrenz von Werten, Demagogie und Aufklärung, Arm und Reich, Datenschutz und Datenspionage. Nicht zuletzt aus diesen Gründen plädiert Herfried Münkler in seinem Buch „Kriegssplitter“ für eine neue geopolitische Strategie des Westens.

„Wie gehen wir damit um?“ So lautet Münklers Frage- und Denkansatz. Und er gibt sich selbst die Antwort: „Es beginnt damit, darüber nachzudenken“, beschied er einen Fragesteller. „Ich bin Politikwissenschaftler. Mein Job besteht eigentlich darin, die Probleme offenzulegen, die Probleme zu beschreiben. Aber, wenn ich schon alle Antworten hätte, dann wäre das ja fast schon eine platonische intellektuelle Diktatur.“

„Humanitäre Intervention“ als neue Herausforderung

In „Kriegssplitter“ finden sich somit nicht ausschließlich wirklich neue Gedanken und Themen. Über den Ersten Weltkrieg, Thema des ersten Kapitels, hat der Politologe 2013 fast eintausend Seiten vorgelegt. Die Kernthese – die Infragestellung der „Hauptschuld“ Deutschlands – faßte er bereits in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zusammen: „Es läßt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem Schuld gewesen.“ Also im Kern „postheroische Gesellschaften“ – auch das findet man in anderen Büchern von Münkler. 

„Kriegssplitter“ ist aber dennoch mehr als eine Art „Best of“, es zeigt beispielhaft, wie subtil der trotz mehrerer Rufe von anderen Universitäten an der HU Berlin verharrende Politikwissenschaftler argumentiert. Wiewohl er einseitig Rußland für die Eskalation der Ukraine-Krise verantwortlich hält, ist er dafür, mit Moskau gemeinsam über eine Beilegung dieses und anderer Konflikte zu reden. 

Und obgleich er um die Gefährlichkeit der Geopolitik weiß, plädiert Münkler für geopolitische Missionen. Die „kolonial-imperialen Interventionen“ der USA in Afghanistan und Irak gingen ihm jedoch etwas zu weit. Stattdessen müsse sich das europäische oder US-amerikanische Einwirken nach „dem Scheitern des amerikanischen Prosperitätsprojekts im Irak“ in der Zukunft „auf Maßnahmen beschränken, die sich eher an der Aufrechterhaltung des Status quo als an dessen perspektivischer Veränderung orientieren.“ Immerhin.

Doch das heißt nicht, daß Münkler keine kriegerischen Einsätze befürwortet, er nennt sie nur lieber „humanitäre Interventionen“. Diese hält er beispielsweise für angezeigt, „um Flüchtlingsströme zu verhindern oder zu verringern“. Es eröffnet ein weites Feld, wenn er meint, festhalten zu müssen: „Wohlgemerkt: Die Interventionen richten sich nicht gegen die Flüchtlingsströme selbst, sondern gegen die Ursachen, die sie in Gang setzen.“ Für den Erfolg solcher „pazifizierender Interventionen“ werde ausschlaggebend sein, daß sie beginnen, bevor sich ein Bürgerkrieg in die Strukturen der Gesellschaft hineingefressen habe.

Herfried Münkler: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. Rowohlt Verlag, Berlin 2015, gebunden, 396 Seiten, 24,95 Euro