© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Die Appeasementpolitik muß ein Ende haben
Der ehemalige Schachweltmeister und Putin-Oppositionelle Garri Kasparow mahnt zu einer härteren Gangart gegenüber Moskau
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Garri Kasparow, langjähriger Schachweltmeister, gründete das oppositionelle Bündnis „Das andere Rußland“, das aus fadenscheinigen Gründen nicht zu den dortigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2007 zugelassen wurde. Ein Jahr danach baute er zusammen mit Boris Nemzow, der 2015 von „unbekannten Tätern“ mitten in Moskau ermordet wurde, die außerparlamentarische Oppositionsbewegung „Solidarnost“ auf.Heute lebt Kasparow in den USA. 

Sein neuestes Buch ruft die Jahre nach dem Zerfall der UdSSR in Erinnerung, um andererseits die Haltung des Westens scharf zu kritisieren. Die Russen fühlten sich damals vom Kommunismus befreit und sehnten sich nach Stabilität, doch angesichts der Inflation und steigender Kriminalität fürchteten viele, ohne eine starke Hand würde das Riesenland im Chaos versinken. Unter solchen Bedingungen konnte Putin sich anfangs auf eine sogar sehr breite Unterstützung der Bevölkerung stützen. 

Die Verbrechen des Sowjetregimes wurden indes nie aufgedeckt. Der allumfassende Sicherheitsapparat erhielt zwar einen neuen Namen, doch blieben die alten Strukturen unangetastet. Ziel der Opposition war damals primär, alle Putin-Gegner zu einen. Es kam zu ersten Protestkundgebungen, doch die von Putin kontrollierten Massenmedien beherrschen die allgemeine Meinung. Bald wurden alle demokratischen Reformen zerschlagen; selbst für bloße Demonstranten gab es hohe Geldbußen. 

Westen habe indirekt Schuld an russischen Zuständen

Der Westen sei naiv, stellt der Autor fest: Er hoffe, die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen mit den Staaten in Westeuropa oder den USA würden zur Liberalisierung Rußlands führen und eigene Zugeständnisse Putins Verhalten ändern. Daß dem falsch verstandenen Wohlwollen der westlichen Welt, ihrer Appeasement-Haltung, aber eine direkte Schuld an den Zuständen des heutigen Rußlands zukomme, wie Kasparow anklagt, erscheint indes doch übertrieben.

Als Tschetschenien seine Unabhängigkeit von Moskau anstrebte, reagierte man dort mit einem Einmarsch, der das Land in ein blutiges Chaos verwandelte. Seitdem aber Putin nach dem 11. September 2001 sich als „Verbündeter der USA“ aufspielte, herrschte selbst beim US-Präsidenten totales Schweigen zu dieser mörderischen Besatzungspolitik. Die zumeist nur symbolhafte Besorgnis des Westens über die Vorgänge in Rußland stellten für Putin nur „lächerliche Beschwichtigungsversuche“ dar. 2008 überfiel seine Armee Georgien. 

Obwohl alle Großmächte im Budapester Memorandum die Souveränität der Ukraine und jeglichen Verzicht auf Gewaltanwendung beschworen hatten, sah man bald russische Soldaten im Ostteil des Staates. Für Putin war sein Eingreifen angesichts der „ausländischen Agenten“ gerechtfertigt, „die in den USA für einen Staatsstreich ausgebildet“ worden seien. Die zögerlichen Sanktionen im Westen wertet Kasparow als „Moralkapitulation“ und stellte die Frage „Will der Westen die Wahrheit nicht sehen, ist es bequeme Feigheit?“ Die Annexion der Krim sei lediglich sehr kurz Gesprächsthema in Washington, London, Paris und Berlin gewesen, meint der Autor: „Drückte sich der Westen vor Sanktionen gegen Putin, weil er sich vor Auswirkungen auf seine eigene Wirtschaft fürchtete?“ Wobei Kasparow in Anbetracht der wirtschaftlichen Sanktionen der EU wohl eine schärfere – militärische – Gangart im Sinn hat.

Das alles ist zutreffend – bedauerlicherweise. Doch der Verfasser denkt einseitig, wenn er lediglich an sein Geburtsland denkt. In unserer heutigen globalen Welt stellt Rußland eine Großmacht dar, die schon durch ihr Vetorecht über größere Macht sowie über viel Einfluß verfügt und dessen Zustimmung zur Bewältigung von globalen Problemen – wie augenblicklich zum Beispiel in der Syrienfrage – erforderlich ist. Daß der Westen die autokratische Politik Putins moralisch ablehnt, ändert an dieser Tatsache leider nichts. Für Kasparow hingegen dürfe Putin wegen seiner Außenpolitik noch nicht einmal einen Platz am Verhandlungstisch zur Syrienkrise finden und gehöre selber vor ein „Kriegstribunal“.

Garri Kasparow: Warum wir Putin stoppen müssen. Die Zerstörung der Demokratie in Rußland und die Folgen für den Westen. DVA, München 2015, gebunden, 416 Seiten, 29,90 Euro