© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Am Rande der Überforderung
Asylkrise: Während Betreuungseinrichtungen an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gut verdienen, wachsen die Probleme
Hans-Hermann Gockel

Nachts um 23.30 Uhr schlagen fünf „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ im Bahnhof der westfälischen Stadt Hamm einen 40jährigen brutal zusammen. Das Opfer kommt mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Die herbeigerufene Bundespolizei hat große Mühe, das rabiate Quintett (13, 14, 15, 16 und 17 Jahre alt) zu überwältigen. Dann die Überraschung: Vier der fünf Schläger, darunter auch der 13jährige, leben in einer Einrichtung für jugendliche Flüchtlinge im knapp 80 Kilometer entfernten Bielefeld. Nicht nur der Sprecher der Bundespolizei, Rainer Kerstiens, wundert sich: „Wie kann es sein, daß sich ein Kind und drei Jugendliche, die unter der Obhut des Jugendamtes Bielefeld stehen, mitten in der Woche nachts in Hamm herumtreiben?“ Zumal alle vier von ihren Bielefelder Betreuern offenbar gar nicht vermißt wurden. 

Der Vorfall von Hamm wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf eines der größten Probleme der deutschen Flüchtlingspolitik. Die Jugendämter sind mit der Masse der „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge“, die von den deutschen Sozialbehörden unter dem Verwaltungskürzel „UMF“ geführt werden, völlig überfordert. In vielen Kommunen stehen die Systeme der Jugendhilfe vor dem Kollaps – oder sie sind bereits komplett zusammengebrochen. Gleichzeitig sind die Jugendlichen für die kommerziellen Betreiber diverser Einrichtungen zu einem Umsatzgaranten geworden. Und für manche dieser Betreiber scheinbar auch zu einem lukrativen Geschäft. Die Frage ist nur: Gibt es dafür auch den optimalen Gegenwert, sprich die bestmögliche Betreuung?

Diese Frage stellt sich auch das Westfalen-Blatt nach den Vorkommnissen von Hamm und berichtet: Für Unterbringung und Betreuung der minderjährigen Flüchtlinge zahlen die Jugendämter etwa 5.000 Euro im Monat – das sind pro Platz 60.000 Euro im Jahr. Das Geld geht in der Regel an Organisationen wie die Arbeiterwohlfahrt. Etliche Leser der Zeitung wollen das nicht glauben: „Sie haben da eine Null zuviel!“ Doch Christian Althoff, der Chefreporter des Westfalen-Blattes (JF 6/16), hat solide recherchiert. Schließlich meldet sich bei ihm eine Frau, die für eine der Institutionen arbeitet: „Das ist ein richtiger Geschäftszweig geworden. Ich kenne Häuser, in die mehr Betten als vorgesehen gestellt werden. Weil jedes Bett 60.000 Euro Umsatz pro Jahr bedeutet.“

Zahlen, die auch das nordrhein-westfälische Familienministerium nicht länger beschönigen will: „Die Kosten für die Unterbringung eines jugendlichen Flüchtlings im Clearing-Haus liegen tatsächlich in einer Größenordnung von 5.000 Euro pro Monat“, bestätigt Hayke Lanwert, die Sprecherin von NRW-Familienministerin Christina Kampmann (SPD).

Nur zum Vergleich – und weil die Zahlen so eindeutig sind: 60.000 Euro pro Platz/Jahr gibt es für die Unterbringung und Betreuung eines UMF, eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings. Im Elite-Internat „Schloß Salem“ am Bodensee müssen Eltern für ihre Kinder  35.000 Euro im Jahr für Unterbringung und Betreuung zahlen. Und ein alter Mensch, der als Schwerst-Pflegefall (Stufe 3) in einem Altenheim rund um die Uhr gepflegt und betreut werden muß, schlägt mit 4.466,26 Euro pro Monat zu Buche. Der verbleibende Eigenanteil bei einer vollstationären Pflege im Altenheim (ohne Pflegewohngeld) beträgt dabei exakt 2.854,26 Euro. 

Anbieter können die Preise diktieren

Die Beispiele sind vielen Vertretern der Jugendhilfe ein Dorn im Auge. Sie lehnen diese als unseriös ab und argumentieren, der Betreuungsaufwand für Kinder und Jugendliche sei halt ungewöhnlich hoch. Fakt aber ist: Die genannten Institutionen, die in der Jugendhilfe einen enormen Umsatz erzielen – und wohl auch einen erheblichen Gewinn – sind auf der sicheren Seite. Denn sie können die Preise diktieren. Zu groß ist die Not der Kommunen, die Jugendlichen halbwegs vernünftig unterzubringen.  

67.864 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden zum Stichtag 26. Januar in Deutschland erfaßt. Die meisten von ihnen zog es ganz gezielt in die Städte und Ballungsräume. Dort haben nun die Sozialbehörden enorme Probleme – und leider auch die Polizei.

Der Hamburger Landesbetrieb Erziehung und Beratung (LEB) schildert auf 21 Seiten die aktuelle Situation. Es ist ein Dokument der hanseatischen Kinder- und Jugendnothilfe, das sich wie eine Bankrotterklärung liest: „Flüchtlingen Hilfe zu leisten ist rechtlich und moralisch geboten (…) Die gegenwärtige Situation gefährdet jedoch den Hilfeerfolg.“ Die Qualität bei der Erstaufnahme sei bereits abgesenkt worden. Nun habe sich die Situation noch weiter verschärft. Wörtlich: „Die Personalstandards können nicht mehr flächendeckend eingehalten werden (…) Es geht vor allem um die tatsächlich nicht mehr vorhandenen Möglichkeiten, an einem Ort in kurzer Zeit und perspektivisch eine qualitativ gute Hilfe und Integration für die UMF sicherzustellen. Es fehlt an verfügbaren Häusern und Fachpersonal.“

Weil das so ist, wurden minderjährige Flüchtlinge aus Ägypten, Marokko oder Afghanistan bereits in ausgesprochen fragwürdigen Ecken der Hansestadt untergebracht. Zum Beispiel am Bullerdeich im Stadtteil Hammerbrook. Nur einen Steinwurf von der Einrichtung entfernt liegt der gut frequentierte Hamburger Straßenstrich. Viele UMF hängen den ganzen Tag über ab. Abends und am Wochenende gehen sie dann „arbeiten“, wie sie es nennen – und wie es die Hamburger Polizei fast schon resignierend feststellt. 

Deutlich wird das in einem Lagebericht des Landeskriminalamtes (LKA) Hamburg, der wohl aus gutem Grund „nur für den internen Gebrauch“ gedacht war: „In vielen Fällen werden die Jugendlichen ziemlich schnell und sehr häufig auffällig, hauptsächlich im Bereich des Taschendiebstahls oder des Straßenraubs. Häufig werden auch Einbrüche und Kfz-Aufbrüche festgestellt (…) Das Verhalten der hochdelinquenten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge gegenüber den einschreitenden Beamten ist als aggressiv, respektlos und herablassend zu charakterisieren. Sie signalisieren, daß ihnen die polizeilichen Maßnahmen gleichgültig sind (…) Bei Festnahmen kommen Widerstandshandlungen und Körperverletzungsdelikte hinzu.“

Doch jetzt tut sich etwas: Jugendliche, die unbegleitet nach Deutschland einreisen, sollen künftig nicht mehr als „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ (UMF) bezeichnet werden, sondern als UMA – als „unbegleitete minderjährige Ausländer“. Die Begründung des Bundesfamilienministeriums: es sei keineswegs erwiesen, daß es sich bei den Jugendlichen um Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention handelt, oder nicht eher um Migranten, die aus anderen Gründen einreisen. Doch die Probleme werden dadurch nicht weniger. Für dieses Jahr rechnen die Behörden – sofern der Flüchtlingsstrom nicht abebbt – mit mindestens 100.000 unbegleiteten Jugendlichen. Egal, ob man sie künftig als UMF oder als UMA bezeichnet. Weder die Jugendämter noch die Polizei sind darauf eingestellt.