© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Dorn im Auge
Christian Dorn

Willkommenskultur will gelernt sein. Unvermittelt zeigen sich meine schauspielerischen Qualitäten, als mich am U-Bahnhof Schönhauser Allee ein halbes Dutzend Immigranten umringt, das offenbar kein Wort deutsch spricht. Die als „Flüchtling“ getarnten Invasoren bitten mich, ihnen an der Tafel des Berliner S- und U-Bahnnetzes die Strecke zur Station Hermannstraße aufzuzeigen. Trotz dutzendfacher Wiederholungen scheinen unsere neuen „Fachkräfte“ überfordert. Offenbar hatten sie es schon bei anderen Passanten vergeblich versucht – in einer seltsamen Mischung von Mißtrauen und offenkundiger Begriffsstutzigkeit. Schließlich geben sie sich mit meiner Erklärung zufrieden, um mir schließlich aus mehreren Mündern gleichzeitig zu danken: „You’re welcome!“ – Der ganze Zirkus, den ich freiwillig mitgemacht habe, verleitet mich unversehens zur Übersprungshandlung, ich entgegne: „No – you are welcome!“ Wenig später summe ich in Gedanken Zeilen von John Lennon: „Life is what happens to you while you are busy making other plans“ – und spinne die Melodie weiter zu dem Song „Beautiful Boy“. Thoughts as toy.


Nicht nur in der individuellen Empfänglichkeit für Musik ist alles eine Frage der Autosuggestion. Auf dem Rückweg vom Café kommt mir eine Mutter mit ihrem Kleinkind an der Hand entgegen, das sich vergewissert: „Mama, und in die Autos kommt Kaffee, damit sie wieder fahren, stimmt’s?“ Ich muß schmunzeln, auch andere Leute lächeln mich unvermittelt an.


Lustig ist nicht nur das Zigeunerleben – oder führe ich bereits ein solches? Es ist wohl eine Frage der Einstellung. Beim „Tatort“ und all den übrigen Krimis des gebührenfinanzierten deutschen Fernsehens, die wie ein Krebsgeschwür den Organismus der Öffentlich-Rechtlichen durchwuchern, ist es leider nur das: eine Frage der Kameraeinstellung, als würde allein diese schon Dramatik und Handlung produzieren.


Am Nachbartisch im Café belehrt der Mann seine Gesprächspartnerin, die wohl ein hoffnungsloses Filmprojekt plant: „Bei Hitchcock ist jede Sekunde genau geplant.“ Tatsächlich, dagegen wird in deutschen TV-Serien, besonders den Krimis, die Zeit mit sinnlos langen Kameraeinstellungen verplempert. Diese Krimi-Serien, so das treffliche Verdikt des Schriftstellers Ulrich Schacht in Tumult, der Vierteljahresschrift für Konsensstörung, seien „ideologisch so holzschnittartig korrekt, daß alte Polizeiruf-110-Folgen aus der unseligen DDR wie französisches Autorenkino wirken“.