© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Mosaiksteine deutschen Klangs
Mythos und Wirklichkeit: Die Musikwissenschaftlerin Friederike Wißmann arbeitet die Relevanz der Tonkunst für die Identitätsprägung heraus
Felix Dirsch

Obwohl den meisten Künsten bereits lange vor dem Zeitalter von Weltkunst und Weltmusik substantiell übernationale Dimensionen zu eigen waren, prägen sie doch in nicht geringem Maß nationale Identitäten. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß es rund ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung eine erneute, größere Debatte über das Thema der „deutschen Kunst“ gab, an der sich  herausragende Kunsthistoriker wie Hans Belting und Werner Hofmann beteiligten.

Auf dem Feld der Musik stehen umfangreichere Diskussionen noch aus. Thea Dorn und Richard Wagner geben in ihrer Schrift „Die deutsche Seele“ (JF 22/12) die Richtung vor, wenn sie schreiben: Musik führe „ins Innerste der deutschen Seele“. Daher ist es erfreulich, daß die Bonner Musikwissenschaftlerin Friederike Wißmann nunmehr das Desiderat ausführlich erforscht hat.

In einer ebenso wissenschaftlich fundierten wie verständlichen Abhandlung geht sie nicht der Frage „Was ist deutsch?“ nach, deren Beantwortung Richard Wagner einst in essayistischer Form umtrieb. Er zerschlug den gordischen Knoten dadurch, daß er die musikalische Entwicklung in Deutschland gegen die der anderen Länder abgrenzte. Wißmann wählt eine andere Vorgehensweise. Sie nennt Kategorien, mit denen der Verlauf der Musik in Deutschland angemessen beschrieben werden kann: himmlisch, diskursiv, gesellig, regional, öffentlich, käuflich, diktiert, widerständig, inszeniert, ausgewandert, hymnisch. Schließlich erläutert sie den Mythos der Musik.

Wißmann rückt Luthers Kirchenlieder in den Vordergrund, aber auch das Werk von Felix Mendelssohn-Bartholdy, der bekanntlich für die Bach-Renaissance maßgeblich verantwortlich ist. Zudem ist das Volkslied (wie die Epoche der Romantik insgesamt) wesentlich für die Bildung des Nationalbewußtseins in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Schaffen Friedrich Nietzsches und Richard Wagners, dem – wie ambivalent auch immer – Rezipienten der nordisch-deutschen Mythologie.

Besonders identitätsstiftend im vorletzten Jahrhundert ist die nationale, weit verzweigte Turner- und Gesangsbewegung. Ihr kommen wichtige Verdienste im Hinblick auf die spätere Reichseinigung zu.

Auch im 20. Jahrhundert existieren Komponisten, die das „Deutsche“, wie immer man es definiert, besonders verkörpern. Richard Strauss zählt ebenso zu dieser gar nicht kleinen Gruppe wie Hans Pfitzner. Dieser besaß wohl von allen Angehörigen der Zunft die größten Affinitäten zum Nationalsozialismus. Dennoch vernimmt Wißmann selbst bei ihm noch Nuancen. In späterer Zeit ist es am ehesten der Komponist Karlheinz Stockhausen, der mit deutschen Eigenarten in Verbindung gebracht werden kann.

Abseits der Pfade klassischer Musik

Wißmanns weiter Horizont wird vor allem in den Kapiteln deutlich, die abseits der Pfade klassischer Musik wandeln. Die Autorin thematisiert die Wiederkehr des deutschen Schlagers, untersucht aber auch das längst legendäre Heavy-Metal-Festival im schleswig-holsteinischen Wacken sowie das (im Laufe der Zeit stark gewandelte) Auftreten der Böhsen Onkelz. Ebenso widmet sie sich Vertretern von Rechtsrock und Skins, die stets bestimmte Varianten von gesellschaftlicher Opposition repräsentieren und diese Haltung in ihrer Musik ausdrücken. Als exemplarischer Vertreter heutiger deutscher Filmmusik gilt ihr der in Hollywood lebende Hans Zimmer. Längst ist in der globalen Welt das Nationale international. Auch der Quotenrenner „Deutschland sucht den Superstar“ und andere derartige Casting-Shows kommen zur Sprache.

Wißmann erörtert ein ungemein breites musikalisch-kulturelles Spektrum: deutschen Punk, Rammstein, Zauberflöten-Neuinszenierungen wie die von Hans Neuenfels, Webers Nationalepos „Der Freischütz“, den Auswanderer Händel, Schwulen- und Nationalhymne, Tanz- und Operettenmusik, Arnold Schönberg, Hanns Eisler und Thomas Manns wirkmächtigen Roman „Doktor Faustus“, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Zusammenschau vieler Mosaiksteine besticht. Auf diese Weise will die Verfasserin das Fehlen eines angeblich ominösen deutschen Wesens verdeutlichen. Musikgeschichtliche Größe ist stets von der Gemengelage von Wirklichkeit und Mythos bestimmt. Für Wißmann sind deutsche Musik, deutsche Kultur, das deutsche Volk und die deutsche Nation (ganz auf der Linie postmoderner Betrachtung) ein Konstrukt. Freilich mutet eine solche kritisch-distanzierte Perspektive wiederum sehr deutsch an. Nirgendwo erscheint die Dialektik so unerbittlich wie beim Thema der nationalen Identitätsprägung. Unabhängig davon dürfte diese Monographie rasch zum Standardwerk avancieren.

Friederike Wißmann: Deutsche Musik. Berlin-Verlag in der Piper-Verlag GmbH, München/Berlin 2015, gebunden, 512 Seiten, 38 Euro