© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Die fünfte Welle ist verhängnisvoll
Der Politikwissenschaftler Peter Neumann analysiert die Entwicklungsstufen des Dschihadismus
Gabriel Burho

Peter Neumanns sehr gelungenes Buch „Die neuen Dschihadisten“ baut auf den Thesen des amerikanischen Historikers David Rapoport über die Wellenförmigkeit des aktuellen Terrorismus auf, untersucht vor allem die Unterstützerbasis des modernen Dschihadismus mit Hilfe eines großen Datengerüsts und zeigt – ungewöhnlich für ein Buch zu diesem Thema – fundierte Lösungsansätze auf.

Gemäß Rapoport folgte auf eine erste anarchistisch geprägte Welle des Terrorismus eine antikoloniale Welle, dieser wiederum ein Terrorismus der Neuen Linken, der von der vierten Welle des religiösen Terrorismus (seit etwa 1979) abgelöst wurde. Entsprechend der jeweiligen Phasen betrachtet er Terrorismus als Generationenphänomen, in dem vor allem Kinder der Mittel- und Oberschichten gesellschaftliche Themen ihrer Zeit aufnehmen. In diesem Sinne sieht Neumann den modernen Dschihadismus in der Tradition der vorhergehenden Terrorismuswellen.

Aufbauend auf den Schriften des italinischen Revolutionärs Carlo Pisacane, beförderten die Antikolonialisten die „Propaganda der Tat“. Des Erfolg im algerischen Unabhängigkeitskrieg, wo mit der Anwendung von Terror der Gegner zu Überreaktionen provoziert wurde und die Bevölkerung damit auf die eigene Seite gezogen werden konnte, erwies sich als erfolgversprechendes Konzept. Spätestens mit der Neuen Linken entstand auch die Idee, daß eine Elite aufgerufen sei, die Welt zu retten. Von den verschiedenen Gruppen der Neuen Linken war in erster Linie die deutsche RAF wirkungsmächtig. 

Die Schilderung der vierten Welle, des religiösen Terrorismus, beginnt mit Anschlägen auf Abtreibungskliniken in den USA und beschreibt dann die Entwicklung des islamischen Terrorismus. Dabei geht Neumann auf alle wichtigen Elemente dieser Entwicklung (islamische Deobandis-Gelehrte und Muslimbruderschaft, Wahhabiten und Salafisten sowie den Nahost- und Afghanistankonflikt) ein. Mit dem Fazit, daß der sogenannte „Arabische Frühling“ die Schwäche des transnationalen Dschihadismus gezeigt habe endet der erste Teil des Buches.

Während dieser Abschnitt die historische Entwicklung richtig aufzeigt, ist diese in vielen anderen Publikationen detaillierter beschrieben. Die Stärke des Buches von Neumann offenbart sich ab dem zweiten Teil, in dem klar wird, daß er kein Lehnstuhlgelehrter ist, sondern aufgrund von persönlichen Kontakten und ausgiebiger Feldforschung einen tiefen Einblick in die Szene gewonnen hat.

Am Beispiel des Islamischen Staates beschreibt er, wie sich die dschihadistische Bewegung grundauf reformierte und mit weitreichenderen Zielen als vorher ein jüngeres Publikum mobilisieren konnte. Gleichzeitig erklärt er die Hinwendung zur ausufernden Gewalt und extremeren Methoden: Der IS habe, so Neumann, kein Interesse daran, die Herzen der Muslime zu gewinnen, wie dies beispielsweise Osama bin Laden immer versucht habe, sondern wolle sie mit allen Mitteln einer neuen Ordnung unterwerfen. Dabei sei er keineswegs ideologisch so geschlossen, wie Jürgen Todenhöfer oder der IS selbst dies darstellten. Während die lokalen Kämpfer wenig ideologisch seien, es vor allem die Ausländer in den Reihen des IS, welche ein Ummah-Ideal und strikte „islamische“ Gesetze mitbrächten und dadurch häufig in Konflikt mit den anderen Gruppen gerieten.  

Neumann betont, daß sich der IS als Staat verstehe und so handle. Gerade das Versprechen eines allumfassenden Sozialstaates, welcher mangels anderer Einkommensquellen auf einer reinen Beuteökonomie aufbaue, und nicht die Gewaltexzesse selbst seien die eigentliche Schwäche des IS. Wenn die Ausdehnung stoppt, verliert er auch die Fähigkeit für seine Anhänger ein Wohlfahrtsstaat zu sein. Gleichzeitig betont er aber die Wirkung, welche der IS bereits erzielt habe: „Selbst wenn das Kalifat bereits morgen vom Erdboden verschwände, hinterließe es ein enormes Erbe. Keine der vorherigen terroristischen Wellen hat ein so potentes Symbol geschaffen.“

Im nächsten Abschnitt widmet Neumann sich dem Hintergrund und der Motivation der ausländischen Kämpfer, welche sich über die „löchrige“ Grenze zwischen der Türkei und Syrien, dem IS anschlössen. Diese unterteilt er in Verteidiger, Sinnsucher sowie Mitläufer und stellt zudem fest, daß längst nicht alle, die sich dem Kalifat anschlössen, auch zu Kämpfern würden. Innerhalb des IS gäbe es vielfältige Verwendung für Spezialisten. Lediglich jene ohne hilfreiche Fähigkeiten würden schnell in den großen Schlachten (beispielsweise in Kobane) „verheizt“. Auch der Islamische Staat sei kein Utopia für Versager.

Rückkehrer werden noch lange Terrorgefahr bleiben 

Am jeweils konkreten Beispiel beschreibt er die Motivation derjenigen, die sich dem IS anschließen, um ihren bedrängten „Brüdern und Schwestern“ im syrischen Bürgerkrieg beizustehen (Verteidiger), derjenigen, die hoften, dadurch einen Sinn im Leben zu finden (Sinnsucher) und derjenigen, die lediglich ihren Freunden in den Dschihad folgten (Mitläufer). Gerade letztere würden dem Kampf bald als „Gestörte oder Desillusionierte“ den Rücken kehren. Auch wenn sich erst in einigen Jahren zeigen werde, wie viele der Rückkehrer tatsächlich zu „Gefährdern“ würden, zeigten Statistiken bereits jetzt, daß Anschlagspläne in Europa von Dschihadisten anderthalbmal so häufig in die Tat umgesetzt würden, wenn diese über „Auslandskampferfahrung“ verfügten. Neumann folgert: „Die Rückkehrer werden uns noch eine Generation lang beschäftigen.“ Deutschland sei allerdings „eines der wenigen Länder, das sich einer nationalen Präventionsstrategie komplett verweigert. Warum eigentlich?“

Im Kampf gegen diese fünfte Welle des Terrorismus, die vor allem auch eine quantitative Herausforderung darstelle, verweist Neumann auf die in Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark und Schweden bereits existierenden nationalen Präventionskonzepte und stellt die berechtigte Frage, warum Deutschland als zentrales Land der EU bisher nichts in dieser Richtung unternommen habe.

Während der IS militärisch langfristig eingedämmt werden müsse, auch um an sich selbst zu scheitern, müsse vor allem die salafistische Szene in Europa genauer beobachtet und kontrolliert werden. Die Entwicklung eines Dreischrittes aus einer Immunisierung von Gefährdeten, einer Intervention bei bereits Radikalisierten und De-Radikalisierungsprogrammen schließe ein entsprechendes Sicherheitspaket ab.

Neben der fundierten Kenntnis der Szene und des Kontextes ist Neumanns Buch vor allem deshalb erfreulich, weil es das Phänomen global beleuchtet, sich nicht davor scheut, die Zusammenhänge zwischen Islam und Dschihadismus zu benennen und diese gleichzeitig in ihren historischen Kontext einbettet: „Wer sich mit Rapaports Wellen beschäftigt, weiß, daß Terrorismus nichts Neues ist, sondern die Entwicklung moderner Gesellschaften kontinuierlich begleitet hat; Daß Terrorismus nicht immer religiös motiviert war und lange Zeit nur selten islamisch; und daß extreme Brutalität und die Enthumanisierung des Gegners nicht notwendigerweise einer religiösen Rechtfertigung bedürfen.“ Insgesamt ein gutes und ausgewogenes Buch für alle, die sich jenseits von Polarisierungen mit dem Phänomen des globalen Dschihadismus beschäftigen wollen.

Peter Neumann: Die neuen Dschihadisten. ISIS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus. Econ Verlag, Berlin 2015 broschiert, 256 Seiten, 16,99 Euro