© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

Die Waage im Untergrund
Auf Sand gebaut: Schinkels Friedrichswerdersche Kirche droht irreversibel beschädigt zu werden
Ronald Berthold

Das preußische Erbe hat nach der Wiedervereinigung nie viel gegolten in der neuen alten Hauptstadt. Sträflich gingen die Stadtentwickler mit der prachtvollen Architektur des Vorkriegsberlins um. Dabei boten sich großartige Chancen zur Rekonstruktion. Die DDR hinterließ nicht nur einen städtebaulichen Trümmerhaufen, sondern auch viele Brachen im historischen Zentrum. Doch die ließ die Stadt mit rechtwinkligen Glas- und Betonbauten zustellen. Größtenteils findet sich nun diese öde Einheitsarchitektur. Von Karl Friedrich Schinkel, dem großartigen Baumeister des beginnenden 19. Jahrhunderts, ist nicht viel geblieben. Was noch steht, schmückt das heutige Berlin in einer unvergleichlichen Weise: die Neue Wache, das Schauspielhaus auf dem Gendarmenmarkt, das Alte Museum sowie die Alte Nationalgalerie auf der Museumsinsel – und die Friedrichswerdersche Kirche am Rande des alten Schloßbezirkes.

Die Erinnerung an das goldene Berlin, das nicht nur aus den heute übriggebliebenen Unikaten bestand, sondern einem ganzheitlichen architektonischen Konzept folgte, lebt nur noch in Bildbänden und auf alten Postkarten.

Selbst den einstigen Glanz des Neuen Museums, erbaut von Schinkel-Schüler Friedrich August Stüler, auf der weltweit beachteten Spreeinsel haben die Verantwortlichen verspielt. Die DDR hatte die Kriegsruine bis zum Schluß rekonstruieren wollen, war dazu aber weder finanziell noch vom Know-how her in der Lage. Nach dem Fall der Mauer kamen Architekten, die mit Unterstützung der Politik daraus eine Kombination aus Altem und Neuen machten. Ergebnis: Der Brite David Chipperfield hat die prachtvolle preußische Architektur in diesem Haus mit Sichtbeton und dem Charme eines Einkaufscenters entstellt.

Jetzt droht auch einer der letzten Schinkelbauten für immer verlorenzugehen. Was zwei Weltkriege und die DDR überstanden hat, ruinieren nun die rund um dessen Friedrichswerdersche Kirche entstehenden sogenannten Stadtvillen. Das frühere Gotteshaus, von der Prachtstraße Unter den Linden gut sichtbar, droht einzustürzen. Berlin baut auf Sand. Seit Jahrhunderten ist das jedem Bauherrn bekannt. Gebäude wie das Stadtschloß mußten die damaligen Architekten mit Holzpfählen stützen, damit sie nicht in der märkischen Streusandbüchse versanken. Die Spree, die sich hier in zwei Arme teilt, und der hohe Grundwasserstand tun ihr Übriges, daß dieser daraus entstehende sogenannte Schwemmsand einen schwierigen Baugrund darstellt.

Der Berliner Untergrund verhält sich wie eine Waage: Nimmt man irgendwo etwas weg, hebt sich die andere Seite und umgekehrt. Beim Abriß des Palastes der Republik achteten die Statiker – geschult durch weitergegebene Erfahrungen und Interesse an der Berliner Baugeschichte – darauf, daß sich der gegenüberliegende Dom nicht hob und irreparablen Schaden nahm.

Bei der Friedrichswerderschen Kirche haben die Verantwortlichen dieses jahrhundertealte Prinzip außer acht gelassen. Die unmittelbar danebengeklotzten Neubauten sind genauso groß wie der Schinkel-Bau. Dies kommt ohnehin einem stadtplanerischen Versagen gleich, weil in Preußen stets das ungeschriebene Gesetz gegolten hat, nichts dürfe höher sein als der Kirchturm. Aber noch wichtiger: Jedem, der sich mit der Historie des Berliner Bauens beschäftigt, hätte klar sein müssen, daß so die unterirdische Balance verlorengeht.

Doch für den Berliner Senat hätte sich die zwar komplizierte, aber doch einfach zu begreifende Gemengelage an einer anderen Besonderheit sogar noch deutlicher zeigen müssen. Denn allein die Schwingungen durch die Arbeiten mit schwerem Baugerät stellten bereits eine Gefahr für die Kirche dar. Um das zu erfahren, hätten die Akteure nur beim alten Schinkel nachlesen müssen: Der Baumeister warnte vor „der beständigen Erschütterung, der unsere Gebäude durch den Straßenverkehr ausgesetzt sind“. Wohlgemerkt: Damals waren noch Fuhrwerke mit zwei Pferdestärken unterwegs. Und auch seinerzeit waren die Grundstücke rund um die Kirche bebaut. Aber trotz technisch weit geringerer Möglichkeiten zeigte der Sakralbau keine Risse. Zur Geschichtsvergessenheit, die nahezu jeden Namen von einem Straßenschild tilgen möchte, dessen Träger sich im Preußen der vergangenen Jahrhunderte nicht gendergerecht geäußert hat, gehört leider auch die Ignoranz gegenüber dem Wissen unserer Vorfahren.

Mit etwas anderem als völliger Gleichgültigkeit dem Schinkelbau gegenüber ist daher die fast schon mutwillige Beschädigung der Friedrichswerderschen Kirche nicht erklärlich. So spricht der zuständige Pfarrer auch von „Zerstörung mit Ansage“. Nun ist das Gebäude, aus dem gerade noch die Skulpturensammlung der Alten Nationalgalerie gerettet werden konnte (darunter die Gipsfassung von Schadows weltberühmter Prinzessinnengruppe, die Königin Luise und ihre Schwester Friederike zeigt), von innen komplett eingerüstet. Dies soll das Schlimmste verhindern. Ein Pfeiler ist bereits geborsten, das Gebäude zeigt überall Risse, Fenster passen plötzlich nicht mehr in die Öffnungen, der Putz fällt herunter, und der Zutritt ist wegen Einsturzgefahr untersagt. Die Schäden, so sagen Experten, sind irreversibel.

Trotz all dieser furchtbaren Folgen läßt der Berliner Senat in seinen Attacken auf die Friedrichswerdersche Kirche nicht locker. Nachdem die größenwahnsinnigen Bauarbeiten an der Westseite das Kirchenschiff zum Wrack gemacht haben, kommt der neue Angriff nun von Osten. Auch dort rollen jetzt die Bagger. Schon das Ausheben der Baugrube könnte die letzte Schinkelkirche Berlins aus dem Gleichgewicht werfen und umstürzen. Doch mehr als Beruhigungspillen hat die Senatsbauverwaltung nicht zu verschreiben: Installierte Meßsysteme sollen anzeigen, wann die Erschütterungen zu stark und gegebenenfalls die Arbeiten unterbrochen werden. Aber: Das Schwemmsand-Phänomen mit seiner unterirdischen Waage bleibt dabei außen vor.

Berlin erneuert sich. Doch daß dies zu Lasten der Meisterwerke vorangegangener, schöpferisch deutlicher kreativerer Generationen geht, kann nicht gleichgültig lassen. Die Attraktivität einer Stadt lebt von der Mischung aus Alt und Neu. In Berlin muß es sogar heißen: vor allem aus Alt. Schinkel hatte viel mehr zu bieten als all seine Nachfolger. Das zeigt sich heute: Millionen Touristen kommen nicht in die Kapitale, um sich an den Neubauten zu erfreuen. Das unterscheidet sie von der herrschenden Architekten- und Politikerklasse.