© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

Auch Fremde legen Blumen ab
Trauer am Straßenrand: Unfallkreuze zeugen von Verkehrstoten
Heiko Urbanzyk

Kati ist 21 Jahre alt, als ihr Leben auf der Südkirchener Straße vor einem Jahr plötzlich ausgelöscht wird. Aus ungeklärter Ursache gerät die junge Frau auf dem Heimweg in den Gegenverkehr, wo es zum Frontalaufprall kommt. Der Notarzt kann ihr nicht mehr helfen. Stumme Zeugen am Straßenrand künden nach derartigen Tragödien von Tod, Schmerz, trauernden Familien und Freunden: sogenannte Unfallkreuze sind fester Bestandteil der deutschen Trauerkultur. Wo vor allem junge Menschen die Fortbewegung im öffentlichen Straßenverkehr mit dem Leben bezahlen, ist der nachfolgende Hain aus Kreuz, Stein und Blumen und zuweilen auch Grablichtern so sicher wie das Amen in der Kirche. 

Eine Vielzahl von Städten und Dörfern hat eine „Todesstraße“, eine nicht selten enge und kurvenreiche Verbindung zweier Gemeinden, häufig gesäumt von alten Bäumen, auf der es auffällig viele Verkehrstote gibt. So auf der Südkirchener Straße zwischen Werne und Südkirchen, wo Kati starb. Die zwei Gemeinden liegen in jeweils gut 30 Kilometer Entfernung zwischen Dortmund und Münster. Hier finden sich allein auf einem Teilstück von kaum drei Kilometern Länge vier recht frische Unfallkreuze – längst verschwundene Kreuze aus den Vorjahren nicht eingerechnet.

Wenn es dort knallt und die Tageszeitung einen neuen Unfalltoten meldet, fragen die Alteingesessenen ihren auswärtigen Besuch: „Stand schon ein Kreuz?“ Hier lernt schon jeder Fahrschüler, das bis vor kurzem erlaubte Tempo 100 bloß nicht voll auszukosten. Ungezählt, aber fest im Lokalgedächtnis verankert sind die Unfälle ohne Todesfolge. Und doch sind es immer wieder die Einheimischen, die hier verunglücken – und es besser hätten wissen müssen. „Rund 14 Prozent aller Verkehrstoten waren im Alter von 18 bis 24 Jahren, der Altersgruppe mit den meisten Fahranfängern“, meldet die Deutsche Verkehrswacht.

Die Kreuze auf der Südkirchener Straße bestätigen dies ausnahmlos. Erst im Herbst 2015 reagierten die Behörden: Es gilt nun auf der gesamten Strecke Tempo 70, und die Fahrbahnmarkierungen wurden erneuert. Die Strecke gilt offiziell nicht als Unfallschwerpunkt, der frühere Maßnahmen erfordert hätte. Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen spricht nur von einer Häufung, wenn mehrere Unfallorte innerhalb von 300 Metern liegen. Hinter Südkirchen wartet schon die nächste Todesstraße Richtung Nordkirchen: Ein toter Fußgänger, ein toter Radfahrer, mehrere verunglückte Kraftfahrer …

Männer trauern anders als Frauen

Professorin Christine Aka (53) kennt die Todesstraßen im Münsterland sehr gut. Die Dozentin für Kulturanthropologie/Volkskunde an der Universität Münster habilitierte zum Thema Unfallkreuze. Ihre Habilitationsschrift erschien 2007 unter dem Titel „Unfallkreuze – Trauerorte am Straßenrand“ als Buch. Bis heute ist es die einzige wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Kulturphänomens auf mehr als 300 Seiten, wie sie im Gespräch mit der jungen freiheit feststellt. „Toll, ich bin die einzige Expertin für Unfallkreuze“, lacht sie ironisch, als ihr erklärt wird, warum sie bis heute Hauptansprechpartner der Presse zu diesem Thema sei.

Aka hält das Aufstellen der Trauerstätten für ein konstantes Phänomen. Es dürfte aber aufgrund der sinkenden Zahl von Verkehrstoten entsprechend weniger Unfallkreuze geben. Zur Zeit ihrer Forschungen gab es jährlich rund 5.000 Verkehrstote, in den letzten Jahren zwischen 3.300 und 3.500. 

Männer trauern anders als Frauen, Freunde anders als Familie ist oft zu lesen. Aka bestätigt das gegenüber der JF. Väter kümmern sich um die technischen Details des Trauerortes: „Wie baue ich das perfekte Kreuz? Wie sichere ich das Kreuz vor Absacken durch Maulwurfsbauten? Wie muß es gebaut sein, damit Regenwasser abtropft?“ Manche Väter müßten in ihrer Trauerverarbeitung gebremst werden. Ein Betonfundament zum Beispiel würde keine Gemeinde dulden.

Ohnehin handelt es sich bei den Trauerstätten am Straßenrand um rechtliche Grauzonen. Die geltende Rechtslage würde allenfalls ein Verbot dieser Anlagen rechtfertigen, keinesfalls eine Erlaubnis. Die Behörden geben sich allerdings äußerst kulant, wie Aka erklärt. Wer nicht zu nah an der Straße dekoriert oder etwa ein Betonfundament gießt, darf regelmäßig mit stillschweigender Duldung durch die zuständigen Behörden rechnen. Aka habe festgestellt, daß bei der Straßenreinigung und Straßenpflege die Mitarbeiter der Bauhöfe sehr penibel darauf achteten, nichts zu beschädigen. „Diese Trauerform stößt auf großen Respekt.“ Ein Fall sei ihr bekannt, in dem ein Kreuz versetzt werden mußte, weil es zu nah an der Straße stand. 

Für die Dekoration fühlen sich die Mütter und Freunde berufen: Kreuze aus Holz oder Stein, mit Namen oder Fotos, Grablichter, Laternen, weiße Kiesel, Engelsfiguren, Stofftiere, Fähnchen, Spruchtafeln und Blumen – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Familien pflegen die Orte intensiver und länger als die Freunde, konnte Aka herausfinden: „Im Durchschnitt stehen die Kreuze fünf bis sieben Jahre.“ Von Freunden errichtete Trauerstätten verwaisen oft schon nach einem halben Jahr, wenn sie von der Familie nicht weitergeführt würden.

Der Volkskundlerin sind aber auch Kreuze bekannt, die seit mehr 25 Jahren stehen. Eines davon steht nach JF-Recherche an der Südkirchener Straße. „Der Scheidepunkt ist häufig die Verwitterung des Holzes. Dann ist die Frage: Erneuern oder nicht?“ Eine Familie aus Werne, deren Sohn tödlich auf der B 54 Richtung Lünen verunglückte, baute das Trauerkreuz nach Jahren ab, nachdem das erste Enkelkind geboren wurde. Eine Regelmäßigkeit gibt es hier laut Aka nicht.

Wenig Respekt zuweilen unter Prozeßparteien

Psychologisch betrachtet sind die Straßenkreuze vor allem wichtig, wenn Unfallursachen unaufgeklärt bleiben. „Sie sind dann wie ein Fingerzeig, ein Mahnmal, das an die unbeantwortete Frage nach dem Warum erinnert“, sagte Trauerbegleiter Claus Frankenheim der Rheinischen Post. „Verwundete Orte“ nennt Professor Aka solche Unfallstellen. Sie beschäftigt sich auch mit Religionsforschung. Die Tradition soll aus dem 19. Jahrhundert stammen, als Wegekreuze für Opfer errichtet wurden, die ohne Sterbesakramente zu Tode kamen – die Kreuze forderten zum Gebet für die arme Seele auf. Trotz der Kreuzsymbolik sind die Unfallkreuze aber auch durchaus mit einer Abkehr von Religion verbunden. Der Rückgriff auf die Tradition ersetzt die Religion, der Straßenrand den Friedhof.

Auf wenig Respekt stößt das Unfallkreuz zuweilen unter streitenden Prozeßparteien, die in den Unfall verwickelt waren. „Hier kommt es zu Fällen von Vandalismus“, weiß Christina Aka. Andererseits sei erwiesen, daß Fremde an den Kreuzen Blumen ablegen, zum Beispiel vermutlich spontan gebundene Feldblumensträuße.

Wer sich heute auf der Südkirchener Straße an Tempo 70 hält, fühlt sich schnell wie ein Depp. Hintermänner drängeln und drängeln, zum Überholen ist es zu kurvig. Der einzige Straßenabschnitt, der dazu taugt, wird dann für dieses Manöver genutzt – auch hier steht ein üppiger Trauerhain an der Stelle, wo ein junges Pärchen von 18 und 20 Jahren sich die Treue bis zum gemeinsamen Unfalltod hielt. Temposchilder, Trauerkreuze, Grablichter – manche Autofahrer lassen sich durch keine Warnung mäßigen.