© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Keine Behandlung zum Nulltarif
Asylkrise: Milliardenschwere Gesundheitsversorgung für Geflüchtete / Beitrags- oder Steuererhöhung?
Christian Schreiber

Deutschland liegt beim Internet­ausbau im Weltvergleich auf Platz 19 – knapp hinter Rußland, aber immerhin vor Portugal. Beim Spitzenreiter Südkorea fließen die Daten bei 68 Prozent der Nutzer mit über zehn Megabit pro Sekunde. In Deutschland erreichen nur 37 Prozent eine solche Geschwindigkeit. Der Rückstand zu Ost­asien, Nordamerika oder Skandinavien dürfte sich verschärfen: „Die 80 Milliarden Euro, die ein flächendeckender Glasfaserausbau kostet, hat niemand“, behauptete Telekom-Chef Niek Jan van Damme in der Welt am Sonntag.

Der kommunale Investitionsstau im Bereich Verkehr oder Bildung beträgt laut Bundeswirtschaftsministerium 156 Milliarden Euro. Die zusammen etwa 23 Milliarden Euro jährlich, die es kosten würde, um in zehn Jahren zu den globalen Wettbewerbern aufzuschließen, scheinen anderweitig hingegen kein Problem: Die Kosten für Unterbringung, Versorgung sowie Sprach- und Integrationskurse für 1,5 Millionen Flüchtlinge veranschlagt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit 22 Milliarden Euro – das entspräche dem doppelten, was der Fiskus jährlich an Solidaritätszuschlag kassiert. Für 2017 werden 27,6 Milliarden Euro prognostiziert. Das sind jährlich 340 Euro Steuerzuschlag für jeden Einwohner von Baby bis zum Greis. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) beziffert den Steuerzahler-Obulus für die beiden Jahre mit 55 Milliarden Euro.

Diskussionen über die Asylausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) wurden bislang mit der Standardformel „Es werden keine Gelder der Versichertengemeinschaft hierfür verwendet!“ entschärft. Der Chef der Bundesärztekammer (BÄK), Frank Ulrich Montgomery, rechnete sogar vor, „in der Regel sind es junge, dynamische Männer. Die durchschnittlichen Gesundheitskosten eines Asylbewerbers liegen bei 2.300 Euro, das sind 600 Euro weniger als bei einem Deutschen“, so das Ex-SPD-Mitglied in der Welt.

Doch die „übernormal gesunden Menschen“ fallen nach einer Wartezeit von 15 Monaten nicht mehr allein dem Steuerzahler, sondern auch der GKV zur Last. Die Flüchtlinge haben dann Anspruch auf das volle Kassenprogramm. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) geht aber davon aus, daß nur zehn Prozent von ihnen nach einem Jahr eine Arbeit finden können. Selbst wenn die Hälfte nach fünf Jahren in Beschäftigung ist – wie die BA optimistisch annimmt –, werden Hunderttausende weiter als Niedriglöhner oder Arbeitslose auf Hartz IV angewiesen sein.

Die GKV-Kosten für Arbeitslosengeld-II-Empfänger soll im Prinzip der Bund tragen. Seit Jahresbeginn erhalten die Kassen für jeden erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger gut 90 Euro im Monat. Doch dieser Beitrag ist nicht kostendeckend, wie Montgomerys Zahlen verraten: Es müßten über 190 Euro monatlich sein, um die durchschnittlichen Gesundheitskosten eines Asylbewerbers kostenneutral für die GKV-Versichertengemeinschaft auszugleichen. Daher schlagen die Kassen nun Alarm. Bereits im laufenden Jahr drohe eine Lücke von mehreren hundert Millionen Euro, weil der Bund für Flüchtlinge und andere Hartz-IV-Empfänger viel zu geringe Krankenkassenbeiträge überweist.

Millionen dauerhaft auf staatliche Hilfe angewiesen

Das Minus müsse daher über noch höhere GKV-Zusatzbeiträge (JF 3/16) von den Kassenmitgliedern ausgeglichen werden. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble weigert sich aber, den Steuerzuschuß zu erhöhen. Es gebe hierfür keinen finanziellen Spielraum. Derzeit überweist der Bund der GKV etwa 14 Milliarden Euro im Jahr, für 2017 sind bisher 14,5 Milliarden Euro eingeplant. Dabei soll es auch bleiben, denn die Staatsfinanzen drohen trotz konjunktureller Milliarden-Überschüsse langfristig aus dem Ruder zu laufen, wie der aktuelle „Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“ warnt. Je nach Modellrechnung müßte der Fiskus sogar jährlich zwischen sieben und 23 Milliarden Euro weniger ausgeben oder mehr einnehmen, um die „schwarze Null“ (JF 1/16) auch bei steigenden Sozial- und Pensionslasten zu halten.

Die GKV-Kassen rechnen hingegen vor, daß die monatliche Lücke zwischen Beitrag und tatsächlichen Kosten etwa 100 Euro im Monat oder 1.200 Euro im Jahr beträgt. Durch die Zuwanderungswelle sei eine dramatische Situation entstanden: „Pro hunderttausend Flüchtlinge entsteht so in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit von 120 Millionen Euro im Jahr“, hieß es in der Frankfurter Rundschau.

Gehe man davon aus, daß spätestens im Verlauf des Jahres 2017 eine Million Flüchtlinge die Wartezeit von 15 Monaten überschritten haben, dann wachse das Loch auf über eine Milliarde Euro. Auch das Bundesgesundheitsministerium glaubt, daß spätestens 2017 „zusatzbeitragsrelevante Mehrbelastungen“ fällig werden könnten. Sprich: Der GKV-Obolus müßte in einem Bundestagswahljahr weiter steigen.

Das dürfte allerdings den politischen Druck erhöhen, zur paritätischen GKV-Finanzierung zurückzukehren. Derzeit liegt der GKV-Beitrag bei 14,6 Prozent. Arbeitnehmer und Arbeitgeber bzw. Rentner und Rentenversicherung zahlen jeweils 7,3 Prozent des Bruttolohns bzw. der Bruttorente ein. Reicht das nicht aus, werden „einkommensabhängige Zusatzbeiträge“ fällig – aber bislang nur für die Arbeitnehmer und Rentner. Bezieher von Betriebsrenten, Renten aus Versorgungswerken oder der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes müssen für diese Gelder sogar die ganzen 14,6 Prozent plus Zusatzbeitrag bezahlen. Letzterer liegt im Kassenschnitt bei 1,1 Prozent. Bei einem Durchschnittseinkommensbezieher (3.000 Euro brutto monatlich) sind das derzeit 400 Euro jährlich. Zur Deckung eines asylbedingten Defizits von einer Milliarde Euro müßte der Zusatzbeitrag um weitere 0,1 Punkte (etwa 36 Euro) steigen.

Ganz gleich, wer die jährlich 3,5 Milliarden Euro Gesundheitskosten für die prognostizierten 1,5 Millionen Zufluchtsuchenden im einzelnen zahlt – die Summe entspricht Schäubles Gesamteinnahmen an Abgeltungssteuer auf Zins- und Veräußerungsgewinne. Auch eine Kfz-Steuererhöhung um 40 Prozent könnte das finanzieren. Für den Ausbau des Internets oder die kommunale Infrastruktur bleibt dabei im einstigen Wirtschaftswunderland nichts übrig.





Bald Gesundheitskarte für alle?

Bis März 2015 mußten Asylbewerber 48 Monate warten, bis sie Anspruch auf volle Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen hatten. Durch das neue Asylbewerberleistungsgesetz erhalten Flüchtlinge mit Aufenthaltstitel oder Duldung schon nach 15 Monaten eine Gesundheitskarte. Vorher bleibt die medizinische Versorgung auf Grundleistungen reduziert, deren Kosten die Kommunen tragen. Außer in Notfällen muß vor dem Arztbesuch ein Behandlungsschein beantragt werden. Angesichts des Massenansturms scheint eine Prüfung der Behandlungsnotwendigkeit häufig illusorisch. Nord­rhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Berlin, Hamburg und Bremen bieten daher schon nach der Erstaufnahme eine Gesundheitskarte, auf der der Asylstatus gespeichert ist. Dies entlaste die Behörden und ermögliche „einen diskriminierungsfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung“, so Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard im NDR. Mit Mißbrauch rechnet die SPD-Politikerin nicht: „Die Ärzte kennen den Leistungskatalog für Geflüchtete und wissen, daß sie darüber hinaus nichts abrechnen können.“