© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Die letzten Bastionen schleifen
Hochschulen in den USA: Eine politisch korrekte Generation hat die Oberhand gewonnen
Karlheinz Weißmann

Der Eindruck, den die Filmaufnahmen von den letzten „antirassistischen“ Kampagnen an amerikanischen Universitäten vermitteln, ist bizarr. Die Demonstranten wirken, auch wenn sie die Fäuste zum Black-Power-Gruß recken und „Revolution“ rufen, harmlos, ihre Parolen eher kindisch als politisch, ihr Verhalten schwankt zwischen Weinerlichkeit und Trotz. Aggressivität ist allerdings genauso deutlich spürbar wie Unduldsamkeit und missionarischer Eifer.

Was im Sommer des vergangenen Jahres als Protest gegen zu hohe Studiengebühren begann und rasch in die Forderung umschlug, allgegenwärtige „Diskriminierungen“ zu beseitigen und für die Bevorzugung von „Minderheiten“ zu sorgen, endete in einer Art Campus-Kreuzzug. Versuche, dagegen mit administrativen Maßnahmen vorzugehen, schlugen regelmäßig fehl. Auch das Bemühen mancher Dozenten, sich der Auseinandersetzung zu stellen und argumentativ etwas auszurichten, war zum Scheitern verurteilt. Wer es mit guten Gründen versuchte, kam gar nicht zu Wort oder wurde niedergebrüllt. Mancher bat noch flehentlich um Gehör, die meisten traten nach kurzer Zeit den Rückzug an. Einige räumten nicht nur das Feld, sondern auch ihren Posten, wenn man ihnen fehlende Sensibilität angesichts der studentischen Anliegen vorwarf.

Mittlerweile fällt Kritik am Vorgehen der Lobbygruppen unter eine Art Schweigegebot. Jeder, der sich trotzdem äußert, riskiert schwerwiegende Folgen, muß gewahr sein, daß er weder bei Kommilitonen noch bei Vorgesetzten oder in der Öffentlichkeit Deckung finden wird.

Das zeigt auch, daß man die Durchschlagskraft des „Antirassismus“ nicht unterschätzen darf. Er bildet heute zusammen mit dem „Multikulturalismus“ – der Vorstellung, die ideale Gesellschaft müsse heterogen und mithin „bunt“ sein – und dem „Relativismus“ – der Behauptung von der Gleichwertigkeit aller Menschen und ihrer zivilisatorischen Errungenschaften – den Kern der westlichen Leitideologie.

Das ist um so erstaunlicher, als sein Siegeszug mit dem Schlachtruf „Hey, hey, ho, ho, Western Culture’s got to go!“ begann. Diesen Slogan skandierten Studenten der Universität Stanford und erreichten 1988 tatsächlich die Abschaffung eines verpflichtenden Kurses in „Westlicher Kultur“, dessen Zweck darin bestand, im Rahmen eines Studium generale mit wichtigen Autoren der europäischen Tradition – von Platon über Machiavelli bis zu Marx und Freud – bekannt zu machen.

Verhaltenskodex zu unerwünschtem Denken

Der Bezug auf diese DWEM, death white european men, also „toten, weißen, europäischen Männer“, drastischer

PPPP, pale, patriarchal penis people, „bleichen, patriarchalischen Penismenschen“, galt in progressiven Kreisen seit langem als Ausweis falscher Gesinnung. Damit sollte jetzt Schluß sein. Hatten die Hochschulen unter dem Druck linker Agitation schon Ende der sechziger Jahre der Einführung von „Frauenstudien“ und „Schwarzen Studien“ zugestimmt, um dem Vorwurf zu begegnen, man verteidige nur die herrschenden Denkmuster, sah man sich jetzt mit Forderungen konfrontiert, Lehrveranstaltungen zuzulassen, in denen nicht nur behauptet wurde, daß alle Zivilisation im Herzen Afrikas entstanden und der schwarze „Sonnenmensch“ dem weißen „Eismenschen“ haushoch überlegen sei und Gott als Frau vorgestellt werden müsse, sondern auch, daß Homosexualität der Heterosexualität vorgehe und Harriet Beecher Stowe – die „Onkel Toms Hütte“ geschrieben hatte – die bedeutendste Autorin des 19. Jahrhunderts war.

Gleichzeitig begannen Säuberungsmaßnahmen, die rasch auch Bereiche außerhalb der Universitäten erfaßten. Es kam zur Entfernung von Büchern mit mißliebigen Vorstellungen oder Begriffen aus Bibliotheken. Bilder oder Symbole in öffentlichen Räumen, die aus welchen Gründen immer Anstoß erregten, wurden abgenommen. Feiertage wie den Columbus Day, die die Indigenen verstören konnten, hat man aus dem Kalender getilgt, andere, etwa das Weihnachtsfest, von „Christmas“ zu „Holiday“ neutralisiert.

An den Hochschulen übergab man den Anfängern, jetzt natürlich nicht mehr freshmen, sondern freshpersons, einen Verhaltenskodex, der sie darüber belehrte, welche Denkhaltungen als unerwünscht galten: Neben Rassismus und Sexismus gehörten dazu auch ethnocentrism (die Annahme, daß die eigene Kultur die überlegene sei), ableism („die Unterdrückung der anders Befähigten“, gemeint waren Behinderte, „durch die vorübergehend Befähigten“, gemeint waren Nichtbehinderte) und lookism („der Glaube, daß die äußere Erscheinung einen Anhaltspunkt für den Wert einer Person abgibt“).

Der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung wurde jetzt erreicht. Mittlerweile schützen weder die richtige Gesinnung – wenn etwa die Leugnung der Existenz von Rassen dahingehend ausgelegt wird, „daß ein Weißer die gesellschaftliche Bedeutung von Rassenzugehörigkeit nicht zugeben will“ – noch die minoritäre Existenz, wenn es die falsche – etwa asiatische oder jüdische – ist. Aktivisten verlangen unerbittlich nicht nur die Entfernung mißliebiger Lehrer oder Studenten, selbst wenn es nur um „Mikroaggressionen“ geht. Sie fordern auch die Beseitigung jedes Denkmals, das an eine Vergangenheit erinnert, die sie bedrückt, und Rücksicht auf jede Empfindlichkeit, bis zu dem Punkt, an dem das Servieren einer exotischen Mahlzeit durch weiße Kantinenbetreiber oder die Halloweenkostümierung als Mexikaner oder „ghetto boy“ zum öffentlichen Skandal werden kann. Auf den vorsichtigen Einwand eines Professors, daß die Hochschule der geistigen Auseinandersetzung, auch mit unangenehmen Tatsachen oder Meinungen, dienen sollte, kam bei einer der erwähnten Demonstrationen die wütende Replik: „Es geht nicht um die Schaffung eines intellektuellen Raumes! Darum geht’s nicht! Begreifen Sie das? Es geht darum, hier ein Zuhause zu schaffen!“

Man kann eine derartige Forderung wahlweise als dumm oder infantil betrachten, aber entscheidend ist der Effekt, nämlich das Zurückweichen der akademischen Eliten vor den Zumutungen einer jungen Generation, deren Gesinnung und deren unbegründetes Selbstbewußtsein sie systematisch herangezüchtet haben.

Kulturkriege kennen Phasen der Ermüdung

Tatsächlich muß man aber noch einen Schritt weitergehen, bis zu der Feststellung, daß die tiefere Ursache für das, was heute geschieht, in jenem Zivilisationsbruch zu finden ist, der sich vor mehr als zwei Generationen vollzogen hat. Bereits Mitte der 1990er Jahre kam ein aufmerksamer Beobachter der Entwicklung in den USA zu folgender Einschätzung: „Die Universitäten wurden zu den Labors moralischer Dekadenz, die sie heute noch sind, wo die Studenten der Sechziger längst die Professoren von heute stellen. Und da nach dem amerikanischen System diese gleichen Professoren das unveräußerliche Recht haben, neue Professoren zu ernennen, bleibt das höhere amerikanische Erziehungssystem fest in den Händen der politischen und kulturellen Linken. Dieser neuen Elite verdanken wir heute im demokratischen Amerika die fast unumschränkte Diktatur jener Ideologie, die mittlerweile weltweit unter dem englischen Eigennamen der ‘political correctness’ bekannt und berüchtigt worden ist. Unter diesem Begriff ist in wenigen Jahren von den Medien, den Schulen, den Universitäten, den Betrieben – und leider sogar den größeren protestantischen Kirchen – ein Wertesystem im öffentlichen Leben zur Geltung gebracht und durchgesetzt worden, das den Einsichten und Erfahrungen des abendländischen Denkens der vergangenen zweitausend Jahre diametral entgegensteht.“ (Franz M. Oppenheimer)

Daß dieser Zusammenhang nicht mehr mit der gebotenen Klarheit zur Kenntnis genommen wird, hat damit zu tun, daß auch die Kulturkriege Phasen der Ermüdung oder des Waffenstillstands kennen. Aber jetzt hat eine neue Offensive begonnen, deren Ziel es ist, die letzten Bastionen des Gegners zu nehmen und zu schleifen.

Foto: Studenten auf dem Campus der Stanford-Universität in Kalifornien, USA: Bücher mit mißliebigen Vorstellungen oder Begriffen werden aus Bibliotheken entfernt, Bilder oder Symbole in öffentlichen Räumen, die aus welchen Gründen immer Anstoß erregten, abgenommen