© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Ein müdes linkes Auge wird zur Metapher
Rückblick: Im Mittelpunkt der diesjährigen Berlinale stand der Zustrom von Migranten
Wolfgang Paul

Es war die politischste Berlinale seit Jahren. Im Mittelpunkt der 66. Ausgabe der Berliner Filmfestspiele stand die Flüchtlingskrise. An den Kinos waren Sammelboxen für Spenden aufgestellt, und Patenschaften ermöglichten Flüchtlingen den kostenlosen Besuch von Vorstellungen. Festival-Direktor Dieter Koss-lick (67) sieht es so: „Wir haben in Deutschland wahrscheinlich mehr Steuerflüchtlinge als Flüchtlinge.“

An die Spitze der Bewegung stellte sich der US-Schauspieler George Clooney, der sich sowohl mit Kanzlerin Merkel als auch mit Flüchtlingen traf. Er war gekommen, um „Hail, Caesar!“ vorzustellen, eine ironische Hommage an Hollywoods Glanzzeiten, mit der das Festival eröffnet wurde. Stimmen für eine kontrollierte Einwanderung waren hingegen nicht zu vernehmen. Es wäre auch naiv gewesen, dies zu erwarten.

„Fuocoammare“ (Feuer auf dem Meer) lag auf den ersten Blick im Trend und ist dennoch ein würdiger Gewinner des Goldenen Bären. Der Dokumentarfilm über den Alltag auf Lampedusa, jener Insel zwischen Tunesien und Sizilien, die zum Einfallstor afrikanischer Emigranten geworden ist, enthält sich jeden Kommentars. Welch ein Unterschied zu den volkspädagogischen Dokumentationen im deutschen Fernsehen! 

Deutscher Beitrag geht leer aus

Der Italiener Gianfranco Rosi, der bereits 2013 den Goldenen Löwen von Venedig für „Das andere Rom“, den Film über die Randbezirke Roms, erhalten hat, ist ein gewissenhafter Filmemacher. Sein neues Werk liefert grandiose Bilder von der Insel, vom Nebeneinander der zumeist vom Fischfang lebenden Inselbewohner und der italienischen Kriegsschiffe, die unentwegt in Seenot geratene Afrikaner auf ihren Schlauchbooten retten und an Land bringen.

Den Insel-Alltag repräsentiert der kleine Samuele, der mit einer selbstgebauten Steinschleuder spielt und seinen empfindlichen Magen auf dem schwankenden Bootssteg trainiert, um später Fischer werden zu könne. Sein müdes linkes Auge wird zur Metapher für unseren Blick auf das schwer erträgliche Flüchtlingselend, das der Film zeigt. Man sollte die Augen nicht davor verschließen, aber über die politischen Konsequenzen darf sich jeder Zuschauer sein eigenes Urteil bilden.

Der zweite Dokumentarfilm „Zero Days“ von dem Oscar-Preisträger Alex Gibney beschäftigt sich mit dem Computerwurm Stuxnet, mit dessen Hilfe eine Anlage von Uranzentrifugen im Iran außer Betrieb gesetzt wurde. Hochrangige US-Geheimdienstler dürfen nicht sagen, wer hinter Stuxnet steckt. Dafür spricht eine Schauspielerin die Aussagen eines Whistleblowers nach, der die USA und Israel für das hochintelligente Computervirus verantwortlich macht. Doch auch der Iran und andere Staaten lassen an Viren arbeiten, die amerikanische Einrichtungen bedrohen können. Es ist also – so der Film – ein gefährlicher Cyberkrieg im Gange. Um den zu beenden, plädiert Gibney für eine offene Diskussion und für Verträge nach dem Vorbild der Atom-, Biologie- und Chemiewaffenabkommen. Sein Film hat eine klare Botschaft, wie man es aus TV-Dokumentationen gewohnt ist. So waren die ersten Dokumentarfilme im Berlinale-Wettbewerb auch zwei Paradebeispiele für die unterschiedlichen Möglichkeiten, die das Genre bietet.

Den Grand Prix vergab die Bären-Jury unter der Leitung von US-Schauspielerin Meryl Streep an Danis Tanovics „Mort à Sarajevo“ (Tod in Sarajevo). In dem ehemals sozialistischen Luxushotel Europa in Sarajevo bereitet man das Gedenken an das Attentat des Serben Gavrilo Princip auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Ehefrau Sophie vor. Ein französischer Ehrengast übt seine feurige Rede über das vereinigte Europa, während das Hotelpersonal, das schon längere Zeit keinen Lohn bekommen hat, eine günstige Gelegenheit für einen Streik gekommen sieht. Der korrupte Direktor will den Streik verhindern und ist in seinen Mitteln nicht gerade zimperlich. Außerdem streitet sich eine bosnische Fernsehmoderatorin mit einem Nachfahren des Attentäters, der radikale serbische Ansichten vertritt. Der Film verschränkt Vergangenheit und Gegenwart zu einer herrlich verrückten Tragikomödie, in der es keine Minute langweilig wird.

Leer ging bei der Preisverleihung der einzige deutsche Wettbewerbsbeitrag aus. In „24 Wochen“ lassen gleich mehrere schlimme Diagnosen die werdende Mutter (Julia Jentsch) an ihrem Kinderwunsch zweifeln. Mit dem Down-Syndrom, das bei dem Ungeborenen festgestellt wird, würde sie sich noch abfinden. Der schwere Herzfehler, der mindestens eine, vermutlich aber mehrere Operationen nach der Geburt erforderlich macht, gibt den Ausschlag für den späten Schwangerschaftsabbruch, gegen den Willen des Vaters.

Das philippinische Achtstunden-Epos „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ von Lav Diaz bekam den Alfred-Bauer-Preis (benannt nach dem ersten Festival-Direktor). Es war der mit Abstand längste Film, der jemals im Wettbewerb gezeigt wurde. Ob ihn tatsächlich alle Jurymitglieder von Anfang bis Ende gesehen haben, darf bezweifelt werden.