© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Von Rügen bis zum Schwarzen Meer
Benjamin Conrads Studie zur Genese der polnischen Grenzen zwischen 1918 und 1923
Oliver Busch

Welcher Staat ist der größte auf der Welt? Polen, weil es gar keine Grenzen hat. Dieses im Umfeld der Versailler Vertragsverhandlungen im Frühjahr 1919 geborene Bonmot ist von einem so sarkastischen wie zeitlosen Tiefsinn, daß es mühelos zum Schlüssel für die aktuelle Konfrontation zwischen West- und Osteuropäern in der „Flüchtlingskrise“ taugt. Denn noch vor Slowenen, Kroaten, Slowaken, Tschechen und Ungarn sind es die von ihren historisch tief verwurzelten Grenz-obsessionen besessenen Polen, die entgeistert auf Angela Merkels Preisgabe der Kontrolle über die deutsche Staatsgrenze reagieren und die die von Berlin und Brüssel geförderte afrikanisch-vorder-asiatische Masseninvasion realistischerweise für einen Einstieg in den „kollektiven Selbstmord Europas“ (Václav Klaus) halten.

Im katholisch-abendländischen Polen, das 1918 seine souveräne Staatlichkeit zurückgewann, sie 1939 verlor, das sich indes 1945 abermals restituierte, freilich als Vasall Moskaus, und endlich 1990 auf Kosten des lediglich zwischen Rhein und Oder wiedervereinigten Rest-Deutschlands als westwärts gesättigter Nationalstaat erneut die politische Bühne betrat, muß der universalistisch-weltbürgerliche, dem alten Kontinent islamische Parallelgesellschaften implementierende Sonderweg der Berliner Nomenklatura daher wie eine Kriegserklärung wirken. 

Denn anders als im Nationalstaat, im ethnisch wie kulturell homogenen Gemeinwesen mit gesicherten Grenzen, will man sich in Polen humanes Dasein im „Europa der Vaterländer“ nun einmal nicht vorstellen. Wer das im Kanzler- und Auswärtigen Amt zukünftig besser verstehen möchte, greife zu Benjamin Conrads Mainzer Dissertation über die „Entstehung der Staatsgrenzen in der Zweiten Polnischen Republik 1918 bis 1923“. 

Welche schwerlich zu überschätzende Bedeutung die sich bei Vordenkern des polnischen Nationalismus wie Waclaw Nalkowski und Roman Dmowski um 1890 schließlich chauvinistisch verkrampfende Fixierung auf „Grenzen“ zukam, rekonstruiert Conrad im Anschluß an Roland Gehrkes Pionierstudie zum „polnischen Westgedanken“ (2001), der bis 1918 die Gebietsansprüche gegenüber dem deutschen Kaiserreich formulierte. Die Kriegsniederlage der drei „Teilungsmächte“ Österreich-Ungarn, Preußen-Deutschland und Rußland habe Polen dann die einmalige Chance eröffnet, solche im nationalpolnischen Milieu aus diesen Staaten lange gepflegten Träume endlich zu realisieren und Polens „natürliche Grenzen“ zwischen Oder und Peipussee, Ostsee und Schwarzem Meer zu ziehen. Damit sollte ein Staat mindestens in den historischen Ausmaßen zu Zeiten des Piastenfürsten Mieszko I. um 1000 n. Chr. oder als osteuropäische Großmacht zur Zeit von Großfürst Jagiellos polnisch-litauischer Union Mitte des 15. Jahrhunderts entstehen, am besten in einer Kombination von beidem. 

Mit der Folge, daß mit der Zweiten Republik kein National-, sondern ein Vielvölkerstaat entstand, der sich bereits in seiner Gründungsphase in lauter Grenzkonflikten verfing. Darunter am besten erforscht ist die von Conrad etwas sehr breit dargestellte, gegen das Selbstbestimmungsrecht der dort lebenden Deutschen verfügte Geschichte der Abtretung Posens sowie von Teilen Westpreußens und Oberschlesiens.

Polens Chauvinismus gegen Preußen in mildem Licht 

Weitaus weniger bekannt, und hier liegen die wesentlichen Verdienste der Arbeit, ist die Genese der weit über die eigenen ethnischen Grenzen hinausgeschobenen polnischen Ostgrenze und die der Nordgrenze zu den baltischen Nachbarn, die Auseinandersetzungen mit Litauen und sogar mit Lettland provozierte. Bei der langfristigen Behauptung solcher überdehnten Grenzen habe die Republik scheitern müssen, weil ihre repressive Minderheitenpolitik und ihre aggressive Außenpolitik zur „Instabilität des ostmitteleuropäischen Staatensystems“ beitrugen. Kein Wunder, daß ihre Grenzen daher „von außen als vorläufig und damit als reversibel wahrgenommen und behandelt wurden“.

Conrads Dissertation erhielt den „Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen“. Bezogen auf sein Kapitel über die Einverleibung von Teilen der preußischen Ostprovinzen ist das keine unverdiente Ehrung. Geht doch der Mangel an Ausgewogenheit zugunsten polonophiler Parteinahme hier so weit, daß Michael A. Hartensteins solide Monographie zur Geschichte der Oder-Neiße-Linie (München 2007) als „unwissenschaftlich“ und nicht zitierfähig aussortiert und über Arbeiten von Gelehrten wie Werner Conze verfügt wird, sie dürften nur „mit Vorsicht“ gelesen werden. Politisch derart korrekt, verzichtet Conrad dann selbstverständlich auch auf Standardwerke wie das des Danziger Historikers Walther Recke über „Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik“ (1927).

Benjamin Conrad: Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten polnischen Republik 1918–1923. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015, gebunden, 382 Seiten, Abbildungen, 62 Euro