© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Notfallszenarien für einen EU-Austritt Großbritanniens
Stuttgarter Entwarnung
Michael Paulwitz

Hat Daimler nun auch sein Dieselgate? Auf diese bange Milliardenfrage gab es beim deutsch-britischen „Stuttgart-Symposium“ keine Antwort. Dort ging es vorige Woche um das Thema: Gehen in den europäischen Fabriken die Lichter aus, wenn Großbritannien am 23. Juni für den EU-Austritt stimmt? Matthias Wissmann, Chef des Industrieverbands VDA, mutmaßte in der FAZ wie ein CDUler: Der „Brexit“ würde die EU „in den Grundfesten erschüttern“. Die echten Experten sehen die Frage dagegen eher mit britischer Gelassenheit.

Daimler produziert zwar nicht im Vereinigten Königreich, aber die reanimierte englische Autoindustrie könnte in diesem Jahr den Produktionsrekord von 1972 mit 1,9 Millionen Fahrzeugen einstellen – dank BMW, Ford, Honda, Nissan, Opel, Tata, Toyota oder VW. Fast vier Fünftel der Autos gehen in den Export, in Deutschland sind es nur zwei Drittel; davon wiederum geht jeder fünfte Wagen auf die Insel.

Bricht dieser Markt bei einem Brexit weg? Das könnte vielleicht Investoren abschrecken, die auf den ganzen EU-Markt zielen, meint Felix Kuhnert von der Beratungsfirma PwC, aber die Autoindustrie agiere global. Ihrer Majestät Honorarkonsul Fritz Oesterle hält die Frage für politisch „überdramatisiert“: Wer in China Geld verdienen und Rechtslenker-Märkte beliefern kann, kommt auch mit einem Brexit zurecht. Man solle einen kühlen Kopf bewahren: Es komme darauf an, welches neue Modell eine britische Nach-Brexit-Regierung mit der EU aushandele. Daß London dabei auf Berlin setzen kann, verrät die Statistik: Deutschland lieferte 2015 Waren für 89 Milliarden Euro auf die Inseln. Wir kauften bei den Briten nur für 38 Milliarden ein. Viel gefährlicher sei, daß nach dem Brexit auch andere EU-Staaten Neuverhandlungen einfordern könnten. Und: die EU habe sich die ganze „Brexit“-Debatte selbst eingebrockt, weil sie sich als Zentralregierung aufgespielt hat.

Wie das Referendum ausgeht, ist offen. Zwei Drittel der Briten mögen die EU nicht, aber 60 Prozent halten den Austritt für das größere Risiko, schätzt Stephen Booth von „Open Europe London“. Auch die Geschäftswelt sei gespalten; weder der „Mittelstand“ noch die City seien unisono gegen den „Brexit“. John Hammond von der Kanzlei CMS Hasche Sigle, ist skeptisch: Premier David Cameron hat den Boulevard gegen sich.

Für Deutschland wäre ein Brexit fatal, warnt „Open Europe“-Direktor Michael Wohlgemuth, weil der ordnungspolitisch orientierte Norden der EU dann seine Sperrminorität gegen den staatsinterventionistischen Süden verliere. Schlimmer als eine Eskalation der Asylkrise oder ein Terroranschlag wäre für die EU-Befürworter aber eine „große, belehrende Rede von Martin Schulz“ in London. Wenn EU-Gegner und Ukip-Chef Nigel Farage schlau ist, hat er seinen Erzfeind schon eingeladen.