© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Demographische Entspannung
Asylkrise: Regierung und Opposition glauben, daß aus Flüchtlingen bald Beitragszahler werden / Kämpft Verdi für Gehaltserhöhung oder Integrationsmilliarden?
Christian Schreiber

Sechs Prozent für die 2,1 Millionen öffentlich Beschäftigten bei Bund und Kommunen, 100 Euro höhere Ausbildungsvergütungen – mit diesen Forderungen geht die Gewerkschaft Verdi in die Tarifrunde 2016. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hält eine solche Entgeltanhebung für inakzeptabel, denn dies koste den Bund 1,7 Milliarden Euro pro Jahr. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) taxiert die Verdi-Forderung auf 5,6 Milliarden: „Das ist für uns nicht darstellbar“, erklärt VKA-Präsident Thomas Böhle.

Der Verdi-Griff in des Steuerzahlers Tasche wird daher keine 7,3 Milliarden Euro kosten – aber der SPD-Stadtrat von München verweist auf „zunehmend angespannte Haushalte“ und de Maizière auf „große und wichtige Aufgaben, denen sich alle gesellschaftlichen Kräfte zuwenden müssen“. Sprich: Für die öffentlich Beschäftigten sind die „finanziellen Spielräume“ begrenzt, aber „vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingssituation“ sind zweistellige Milliardenausgaben kein Problem.

Daß 200.000 zusätzliche Erwerbslose etwa zwei Milliarden Euro kosten, ist bekannt. Auch, daß die 670 Euro je Flüchtling und Monat, die der Bund an die Länder zahlt, die 1.000 Euro Ausgaben nicht decken. Aber Verdi liefert seinen großkoalitionären Tarifpartnern sogar weitere Munition: „Von einer Million Flüchtlingen sind 174.000 schulpflichtige Kinder. Ein Schulplatz kostet inklusive Fördermaßnahmen jährlich bis zu 7.900 Euro. Das macht insgesamt 1,4 Milliarden Euro im Jahr“, heißt es in den Wirtschaftspolitischen Informationen (4/15) des Verdi-Bundesvorstands. Ein Berufsschulplatz verlange 7.000 Euro: „Bei 222.000 jugendlichen Flüchtlingen belaufen sich somit die Kosten auf eine überschaubare Summe von 1,6 Milliarden Euro im Jahr.“ 400.000 neue Sozialwohnungen kosteten „die Steuerzahler fast zehn Milliarden Euro oder drei Jahre lang – bis zur Fertigstellung – mehr als drei Milliarden Euro pro Jahr“, so die Verdi-Experten. Weitergehende Kosten wie „etwa der Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ werden von Verdi nicht aufgeschlüsselt. Der Präsident des Bayerischen Landkreistags, Christian Bernreiter (CSU), sprach 2015 von 60.000 Euro pro Jugendlichem jährlich – dem Zehnfachen dessen, was dem durchschnittlichen Hartz-IV-Bezieher an Regelsatz, Miete, Heizung und Sozialversicherung zusteht.

„Jeder Euro, der jetzt in die Bildung und Qualifikation der Flüchtlinge investiert wird, zahlt sich in Zukunft mehrfach aus“, glaubt Verdi. Solche Investitionen erhöhten „nicht nur den Beitrag der neuen Bürgerinnen und Bürger zur Wirtschaftsleistung“, sie würden auch „hohe gesellschaftliche Folgekosten“ wie Langzeitarbeitslosigkeit oder Kriminalität vermeiden. Regierung und Opposition auf Bundesebene rechnen sogar mit neuen Sozialbeitragszahlern.

Viele Flüchtlinge bleiben langfristig in Deutschland

Schon in der Einleitung der parlamentarischen Anfrage (18/7401) der Grünen-Bundestagsfraktion klingt Euphorie durch: „Viele der Menschen, die in den letzten Jahren in Deutschland Schutz gesucht haben, werden auch langfristig bleiben.“ Die derzeitige Zuwanderung biete die Chance, „Druck auf unser gesetzliches Rentenversicherungssystem zu reduzieren. Mehr als die Hälfte der Geflüchteten ist zudem unter 25 Jahren alt und hat damit noch fast das gesamte Erwerbsleben vor sich,“ schreiben die Oppositionsabgeordneten.

Die Bundesregierung teilt den grünen Optimismus: „Da es sich bei den Flüchtlingen um Personen im jüngeren Alter handelt, stellt diese Personengruppe ein Potential dar, das geeignet ist, zur Entspannung der demographischen Herausforderungen beizutragen“, denen die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) gegenüberstehe, heißt es in ihrer Antwort (18/7495). Konkrete Prognosen wagen die Regierungsvertreter nicht. Zudem stünden den von den 4,4 Millionen ausländischen Versicherten gezahlten GRV-Beiträgen zusätzliche Anwartschaften gegenüber, die später zu Zusatzausgaben führen würden.

Ein Blick auf die mitgelieferten Zahlen offenbart zudem, daß die Gehälter der ausländischen Versicherten mit 23.000 Euro jährlich ein Drittel unterhalb des GRV-Durchschnitts (34.500 Euro/West) liegen. Im Versichertengebiet Ost ist die Diskrepanz noch größer: 16.700 zu 29.600 Euro. Von den derzeitigen ausländischen Rentenzahlern stammen zudem 1,8 Millionen aus der EU (Spitzenreiter Polen und Italien), 950.000 aus der Türkei und mehr als eine halbe Million aus Nicht-EU-Ländern Osteuropas und des Balkans. Aus Eritrea, Irak, Iran und Syrien waren 2014 nur 145.000 als GRV-Beitragszahler erfaßt. Wegen dieser geringen Zahl lägen der Bundesregierung „zur finanziellen Auswirkung von Fluchtmigration auf die gesetzliche Rentenversicherung in der Vergangenheit“ keine Angaben vor.

Arbeitsministerin Andrea Nahles gesteht zwar ein, daß zu den 460.000 arbeitslosen Flüchtlingen in diesem Jahr weitere 200.000 hinzukämen, aber aus ihnen könnten durch das neue Integrationsgesetz die „Fachkräfte von morgen“ werden. Der Ökonom und Regierungsberater Axel Börsch-Supan rechnete in der FAS ernsthaft vor: „Wenn wir im vergangenen Jahr eine Million Flüchtlinge hatten und in diesem Jahr noch mal eine halbe Million kommt, wenn sie die Altersstruktur bisheriger Flüchtlinge haben und langfristig zwei Drittel eine Arbeit finden: Dann gleicht das die gesamten Kosten für die Mütterrente und für die Rente mit 63 wieder aus.“

Die Kosten für das arbeitslose Drittel – und den millionenfachen Familiennachzug – müssen sich selbst bei dieser äußerst optimistischen Annahme allerdings öffentlich Beschäftigte und Steuerzahler teilen.

Antwort der Bundesregierung zur GRV:  dip21.bundestag.de