© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Einer religiösen Sehnsucht eine politische Gestalt geben
Theorien des jüdischen Staates: Ein interessanter Sammelband über Vordenker des Zionismus in der Nomos-Reihe „Staatsverständnisse“
Heiko Urbanzyk

In der Reihe „Staatsverständnisse“ erschien aktuell der 76. Band, welcher sich dem Zionismus in seiner politischen, kulturellen und religiösen Dimension widmet. Herausgeber Samuel Salzborn (Universität Göttingen) betont, daß andere staatstheoretische Überlegungen als allgemeine Vorlagen für die Etablierung politischer Systeme verwendet werden könnten. Die theoretische Diskussion über den Zionismus hingegen korreliere „unmittelbar mit der Etablierung des Staates Israel“. Salzborn widerspricht den noch heute insbesondere am linken politischen Rand beliebten Vorwürfen eines „jüdischen Siedlungskolonialismus“ seit der Einwanderung der Juden in Palästina. Im Gegenteil habe ein Landkauf durch jüdische Organisationen bei arabischen, „keineswegs zum Verkauf gezwungenen“  Großgrundbesitzern eine völlig legale Inbesitznahme zur Folge gehabt. 

Vorbild in der hebräischen Gesellschaftsordnung

Der Hamburger Historiker Volker Weiß widmet sich mit dem in Bonn geborenen „rheinischen Revolutionär“ Moses Hess (1812–1875) einem der frühesten Vordenker des Zionismus (JF 24/15). Sein Werk „Rom und Jerusalem“ aus dem Jahr 1862 ist das erste Gedankenspiel eines deutschsprachigen Autors über einen eigenen demokratischen Judenstaat. Noch lange vor Theodor Herzls „Judenstaat“ (1896) verfaßt, habe „Rom und Jerusalem“ jedoch dessen Bekanntheitsgrad und Einfluß nie erreicht. Hess sieht ein Vorbild in der hebräischen Gesellschaftsordnung zur Zeit Moses, vor der Zeit der Wahlkönige. 

Diese wohl basisdemokratische Ordnung kam den Ideen des Vormärz und seiner Verfechter sehr nahe. Weiß ordnet Hess als Befreiungsnationalisten ein, der als zionistischer Pionier früh erkannt haben will, daß das Überleben des Judentums einzig in einem eigenen Staat gesichert sei. Hess, als Frühsozialist im Kreise um Karl Marx und Friedrich Engels aktiv, betont zunehmend radikaler seine jüdischen Wurzeln, je mehr er auch unter den liberalen Kräften der damaligen Zeit eine gewisse antisemitische Tendenz wittert. Indes machten sich zeitgenössische jüdische Quellen lustig über ihn, der „kein einziges jüdisches Gesetz, keinen einzigen jüdischen Brauch beobachtet“ und keine Synagoge betrete. 

Carsten Schliwski (Universität Köln) stellt die Theorie der Autoemanzipation des russisch-jüdischen Mediziners Leon Pinsker (1821–1891) vor. Dieser griff in seiner Befürwortung eines eigenen jüdischen Staates selbst ein antisemitisches Klischee auf. Die Juden könnten nirgendwo heimisch werden und auf Akzeptanz stoßen, weil sie im Gegensatz zu anderen Ausländern keinen Ort hätten, an dem auch sie Inländer seien. Die jüdische Nation sei damit die einzige Lösung, mit anderen Völkern auf Augenhöhe zu kommen. Der geographische Ort eines Judenstaates könne nur in dünnbesiedelten Regionen wie der asiatischen Türkei, Nord- oder Süd-amerika liegen, da eine große Zahl Juden in dichtbesiedelten Gebieten stets Mißtrauen und Proteste auslöse.   

Weitere, in der Regel angenehm kompakte Aufsätze, widmen sich zionistischen Protagonisten wie Eduard Bernstein, Theodor Herzl, Nathan Birnbaum, Chaim Weizmann und einigen mehr. Auffällig ist, wie gerade im 19. Jahrhundert insbesondere säkular geprägte Juden unter dem Eindruck der Pogrome in Rußland einen Rückzugsort ersehnten und theoretisch unterfütterten. Die europäische Judenemanzipation weckte in vielen ihrer intellektuellen Profiteure mehr als den bloßen Integrationswillen. Das vorliegende Werk bietet Einblick in das jüdische Selbstverständnis, ohne dabei den belehrenden Zeigefinger zu heben.

Samuel Salzborn: Zionismus. Theorien des jüdischen Staates. Nomos Verlag, Baden-Baden 2015, broschiert, 211 Seiten, 39 Euro