© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Das Dämonische in der bürgerlichen Idylle
Obrigkeit und Unterwelt: Vier deutsche Filmklassiker aus der Weimarer Zeit restauriert auf DVD
Werner Olles

Den Schlüssel zum expressionistischen deutschen Film der 1920er Jahre bildet das von dem aus Breslau stammenden Filmregisseur Robert Wiene inszenierte „Cabinet des Dr. Caligari“ (1920): Der Scharlatan und Hypnotiseur Caligari, großartig gespielt von dem „Mephisto“-Darsteller Werner Krauß, zieht mit seinem Kabinett auf Jahrmärkten umher. Die Hauptattraktion ist der Somnambulist Cesare (Conrad Veidt). Nachts wird der Schlafwandler von Caligari hypnotisiert und begeht die scheußlichsten Untaten.

Caligari ist die Inkarnation des dämonischen Machtmenschen, dessen verbrecherische Pläne durch Cesare ausgeführt werden. Am Schluß stellt sich heraus, daß alles nur der Phantasie eines Geisteskranken entsprungen war: Caligari ist kein gewissenloser Beschwörer, sondern der freundliche Oberarzt eines Hospitals.

 Walter Reimann, der die Dekoration entwarf, versetzt den Zuschauer in eine groteske Welt revolutionärer Kulissenmalerei. Jedes einzelne Filmbild vermittelt ein unheimliches Gefühl des Alptraums und der Unwirklichkeit. Das kühne Experiment dieses Films über Persönlichkeitsspaltung und Geheimnisse des Unterbewußtseins unterstreicht deutlich die Rolle der expressionistischen Dekoration, die im Stummfilm eine eigene bedeutungsvolle Richtung schuf.

Spiegelbild kollektiver Ängste

Einer der interessantesten und bedeutendsten Regisseure jener Jahre war Friedrich Murnau (1888–1931). Seine ersten Filme waren noch stark von der caligaristischen Richtung beeinflußt. Unter ihnen nimmt die Dracula-Adaption „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922) einen besonderen Platz ein. Thomas Hutter (Gustav von Wangenheim), Sekretär eines Maklers in Wisborg, reist nach Transsylvanien, um mit dem Grafen Orlok (Max Schreck) über einen Hauskauf zu verhandeln. Der Schloßherr erweist sich als Vampir, der Pest und Tod nach Wisborg bringt. Erst durch die selbstlose Hingabe von Hutters junger Gattin Ellen (Greta Schröder) kann das Unheil gebannt werden.

 „Nosferatu“ ist ein Meisterwerk des deutschen Stummfilmexpressionismus, entstanden nach Mo tiven des romantischen Schauerromans von Bram Stoker. Murnau nutzt virtuos die technischen, poetischen und emotionalen Effekte des Mediums und entwirft – indem er den Einbruch des Dämonischen in die bürgerliche Idylle schildert – ein düsteres Spiegelbild kollektiver Ängste in der Weimarer Republik.

1930 schuf Josef vom Sternberg den Tonfilm „Der blaue Engel“: Ein pedantischer Oberlehrer (Emil Jannings) entdeckt, daß seine Primaner heimlich ein Kabarett besuchen. Um dem unmoralischen Lebenswandel seiner Schüler auf die Spur zu kommen, begibt sich Professor Rath in die Höhle der Löwin. Er verfällt der Varietéfrau Lola Lola (Marlene Dietrich) und setzt sich der Lächerlichkeit aus – bis zum bitteren Ende.

Nach dem Roman „Professor Unrat“ von Heinrich Mann ist der „Blaue Engel“ die Tragödie eines Gymnasialprofessors, der sich durch die Leidenschaft für eine Tinteltangel-Sängerin zugrunde richtet. Der Film ist eine erschütternde Charakterstudie von Jannings und Ausgangspunkt für Marlene Dietrichs Weltkarriere. In Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) beunruhigt ein Kindermörder die Bevölkerung. Die Suche der Polizei nach ihm versetzt die Unterwelt in Aufregung; eine Ganovenorganisation sendet daher ihre Spitzel aus. In die Enge getrieben, flieht der Mörder in ein Sparkassengebäude, wo er von den Verbrechern gestellt wird. In letzter Minute kann er vor dem Todesurteil des Unterwelttribunals bewahrt und der Justiz übergeben werden.

Verweise auf das gesellschaftliche Klima der Weimarer Republik am Vorabend des Nationalsozialismus sind augenfällig: Obrigkeit und Unterwelt erscheinen vom gleichen Schlag, gemeinsam bringen sie den „Abartigen“ im Namen des „gesunden Volksempfindens“ zur Strecke. Lang, der mit diesem Film eine ganze Erfolgsserie von Thrillern einleitete, hatte sich den Stoff aus dem Alltag geholt. Er schilderte Abschnitte aus dem Leben eines Düsseldorfer Lustmörders mit derartiger Intensität, daß es den Zuschauern kalt über den Rücken lief. Neben Lorre sind Gustav Gründgens als „der Schränker“, Otto Wernicke als Kriminalkommissar, Paul Kemp als Taschendieb und Theo Lingen als „Bauernfänger“ zu sehen. Mit „M“ führte Fritz Lang den deutschen Filmexpressionismus weiter und schloß ihn gleichzeitig ab. Die Edition bietet als Extras unter anderem ein 20seitiges Beiheft „Die Geburt des Horrors im Ersten Weltkrieg“, Bildergalerien, Informationen zur Restaurierung der Filme sowie Interviews mit Fritz Lang und Marlene Dietrich.

DVD/Blu-ray: Das Cabinet des Dr. Caligari; Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens; Der blaue Engel; M – Eine Stadt sucht einen Mörder. Universum Film, München 20 16, Laufzeit etwa 475 Minuten