© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Hat die Kernenergie eine Zukunft in Deutschland?
Bedenkt den Erntefaktor!
Jan-Christian Lewitz

Ob die Kernenergie noch eine Zukunft hat? Was für eine Frage! Die Kernenergie ist da, ob es einem gefällt oder nicht. Denn ohne Kernkräfte und die durch diese in Atomkernen gespeicherte Energie (die „Kernenergie“) gäbe es gar keine natürliche Radioaktivität auf der Welt.

Geht es um die friedliche Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung in Kraftwerken, lautet die eindeutige Antwort „ja“. In vielen Ländern werden neue Atomkraft- (AKW) beziehungsweise Kernkraftwerke (KKW) errichtet oder Laufzeiten im Bestand verlängert (so beispielsweise in den USA bei 73 von über 100 KKW auf 60 Jahre, Stand Juni 2013).

Es gibt auch keinen Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland. Denn der Strommix ist internationalisiert, und der KKW-Strom kommt auch aus dem Ausland. 

Kernenergie ist sowieso da.

Doch was ist mit der Aussage, der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie sei deshalb auch gar nicht möglich? Das stimmt nicht – nichts ist unmöglich! Aber ist er sinnvoll und empfehlenswert? Nein, das ist der Ausstieg nicht – oder nur dann, wenn wir ein anderes Deutschland haben wollen. Eines mit viel weniger Einwohnern, Industrieproduktion und Lebenserwartung.

Das ist nur den meisten Bürgern nicht bewußt. Der Strom kommt aus der Steckdose, trotz Photovoltaik- und Windkraftanlagen (PVA beziehungsweise WKA). Ja, trotz. Denn jetzt kommt der Erntefaktor zur Sprache. Die Herstellung von Photovoltaik- und Windkraftanlagen mit niedrigen Erntefaktoren wird durch die hohen Erntefaktoren der konventionellen Kraftwerke (Kohle, Gas, KKW, Wasserkraft) erst ermöglicht. Der Erntefaktor, im Englischen auch EROI (Energy return on investment) genannt, ist nichts anderes als das Verhältnis zweier Energien, nämlich der elektrischen Energie, die eine Anlage während ihrer gesamten Lebensdauer produziert hat, zu derjenigen Energie, die für Bau, Betrieb/Wartung und Rückbau aufgewendet werden muß. Hier sehen PVA und WKA schlecht aus.

So weist die PVA, deren Strom direkt ins Stromnetz eingespeichert wird, einen Erntefaktor von mickrigen 3,9 aus, bei Zwischenspeicherung des Stroms sogar nur 1,6; Erdgas und Kohle kommen auf circa je 30, Laufwasser auf um die 40 und gegenwärtige KKW auf 75.

Deutschlands aktuell noch betriebene KKW sind eine Technologie, die vor über 60 Jahren entwickelt wurde. Sie funktioniert überragend gut. Das gilt auch trotz der nuklearen Unfälle in Harrisburg 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Die Folgen dieser Nuklearunfälle waren im Vergleich zu den Folgen anderer Stromtechnologien gering, vergleiche die Opferzahlen bei Staudammbrüchen (Tote im ein- bis fünfstelligen Bereich je Ereignis), in Kohlebergwerken (zum Beispiel in der Ukraine sowie der Türkei) oder Umweltauswirkungen von Öltankerkatastrophen (Exxon Valdes 1989) sowie Bohrinselunfällen (Deepwater Horizon 2010). Bei der bisher größten Katastrophe in einem KKW, beim Reaktorunglück von Tschernobyl, sind 28 bis 47 Menschen an den Folgen der Strahlung gestorben, siehe die diesbezügliche Bewertung des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) unter www.unscear.org. In Harrisburg und Fukushima sind keine Personen durch die beim jeweiligen Unfall freigesetzte Strahlung getötet worden.

Die Anwendung neuer kerntechnischer Reaktoren aus dem Generation-IV-Programm könnte uns das Endlager ersparen und eine neue technische Revolution einleiten. Die Energiebereitstellungskosten könnten deutlich gesenkt

werden.

Die immer wieder präsentierten Op­ferzahlen mit mehr als 100.000 Toten resultieren aus theoretischen Berechnungen mit unrealistischen Dosis-Wirkungs-Beziehungen. Diese Toten hat in der Realität niemand gesehen.

Dessen ungeachtet gäbe es einige Verbesserungsmöglichkeiten bei der Nutzung der Kernenergie. Die Anwendung neuer kerntechnischer Reaktoren aus dem Generation-IV-Programm (Flüssigsalz- und metallgekühlte Reaktoren) könnte uns das Endlager ersparen und eine neue technische Revolution einleiten mit einer deutlichen Senkung der Energiebereitstellungskosten. Hier gilt: „Das beste Endlager ist kein Endlager“; wir könnten uns die Endlagersuchkommission sparen. Der durch Berliner Kollegen entwickelte Dual-Fluid-Reaktor (DFR) wäre eine Möglichkeit (JF 52/15).

Deutschland scheint in seiner Stagnation indes nicht bereit für ein technologisch so weit entwickeltes Produkt. Das ist schade, denn im Ausland ist das Interesse groß.






Jan-Christian Lewitz, Jahrgang 1965, studierte in den USA, Kiel und Dresden Physik. Nach dem Diplom 1993 in Strahlenschutzphysik internationale technisch-organisatorische Tätigkeit in der Kerntechnik. Seit 2002 Geschäftsführer der LTZ-Consulting GmbH.