© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Zerschlissenes Traditionsband
Erinnerung an die Befreiungskriege
Wolfgang Müller

Von der „Verpflichtung gegen die Vergangenheit als einem geistigen Kontinuum“, die nach Jacob Burckhardt im 19. Jahrhunderts den „europäischen Bildungsmenschen“ noch klar unterschied vom „traditions- und erinnerungslosen Menschen“ Nordamerikas, hat sich die bundesrepublikanische Geschichtspolitik inzwischen so weit dispensiert, daß sie das kollektive Gedächtnis fast ausschließlich auf die NS-Zeit konzentrieren will. Deutsche Geschichte bis 1933 mag daher getrost der Vergessenheit anheimfallen. 

So zeigte sich im Gedenkjahr 2013 die Öffentlichkeit demonstrativ gleichgültig gegenüber der Erinnerung an die Befreiungskriege, die zwischen 1813 und 1815 die Herrschaft Napoleons in Mitteleuropa beendeten. Bezeichnenderweise stammt denn auch das nun präsentierte, alle wissenschaftlichen Ansprüche erfüllende, darum fortan wohl maßgebliche moderne Werk zu den Befreiungskriegen aus der Feder zweier Forscher, die nicht zum akademischen Establishment zählen. Der Historiker Olaf Haselhorst und der Jurist Jan P. Ganschow, beide schon mit profunden Darstellungen zum Deutsch-Dänischen und Deutsch-Französischen Krieg hervorgetreten, legen auch diesmal wieder auf hohem Niveau eine umfassende Arbeit vor, die die Ereignisse vom März 1813 an, als es in Preußen hieß: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, in den weitgespannten Rahmen europäischer Geschichte seit Ausbruch der Französischen Revolution einbetten. 

Auf hundert übersichtlich strukturierten Seiten schildern die Autoren die Konsequenzen der epochalen Zäsur von 1789, die den Zusammenbruch des Alten Reiches und die fragile französische Hegemonie über den Kontinent heraufführte. Daran schließt sich als Herzstück des Bandes die Geschichte der Feldzüge bis zur Schlacht von Waterloo an. Es folgen Detailliertes zu Kampftaktik und Waffentechnik sowie ein alltagshistorisch ungemein eindrucksvolles, zum Pazifisten erziehendes Kapitel zum blutigen „Grauen des Krieges“. Abschließend folgt eine kundige Rezeptionsgeschichte der Befreiungskriege bis hin zu einer nach 1945 nur noch in der DDR vitalen Erinnerungskultur. Heute ist davon nicht nur „das Traditionsband der Bundeswehr zur preußischen Reformära zerschlissen“. 

Olaf Haselhorst, Jan P. Ganschow: 1815 – Die Befreiungskriege und das Ende des Napoleonischen Zeitalters.  Ares Verlag, Graz 2015, 488 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro