© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

„Die Demokratie funktioniert“
Der fulminante AfD-Wahlsieg korrigiert das konservative Versagen der Union, meint der Publizist Hugo Müller-Vogg. Zugleich warnt er vor den neuen Alternativen
Moritz Schwarz

Herr Dr. Müller-Vogg, ist die CDU schuld am Erfolg der AfD?

Hugo Müller-Vogg: Die AfD bedient eine Marktlücke: Sie ist die einzige Partei, die eindeutig die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung ablehnt. Gemeinsam ist ihren Wählern, daß sie ihren Frust loswerden und es „denen da oben“ mal richtig zeigen wollen. 

Eben darum geht es doch in der Demokratie: Regierende, mit denen man nicht zufrieden ist, abzuwählen. 

Müller-Vogg: Halbwegs intelligente AfD-Wähler sollten aber wissen, daß die Partei, gleich wieviel Prozent sie erzielt, nicht an die Regierung gelangt – also auch nichts beeinflussen kann. 

Beeinflußt die AfD nicht längst die Politik? Der CSU-Kurs ist doch ebenso von ihr mitgeprägt wie ein Teil der CDU-internen Merkel-Kritik oder die Forderung Sigmar Gabriels, die Sozialpolitik zu verstärken.

Müller-Vogg: Die AfD hat bisher vor allem erreicht, daß es bei der Bundestagswahl 2013 eine rot-rot-grüne Mehrheit gab, die zur Großen Koalition geführt hat. Oder, daß in Hessen Schwarz-Gelb nicht weiterregieren konnte und die CDU mit den Grünen zusammenging. Jetzt könnten dank ihr in Rheinland-Pfalz Rot-Grün im Amt bleiben und in Sachsen-Anhalt die Grünen an der Macht beteiligt werden. 

Ist das nicht eher die Schuld der CDU, die sich weigert, mit der AfD zu koalieren? 

Müller-Vogg: Die Union ist da konsequent: Eine Partei am rechten Rand wie die AfD war und ist für sie kein Partner.

Gehört zu den demokratischen Tugenden nicht, den Wählerwillen zu respektieren sowie die Bereitschaft zum Kompromiß? 

Müller-Vogg: Pardon, nach dieser Logik hätten 1933 SPD und Zentrum mit der NSDAP koalieren müssen.

Sie vergleichen die AfD mit der NSDAP?

Müller-Vogg: Nein, ich bin nur Ihrer Logik gefolgt. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, mit Parteien zu koalieren, die am Rande des demokratischen Spektrums stehen – teilweise darüber hinausreichen.

Die AfD ist keine bürgerliche, sondern eine radikale Partei?

Müller-Vogg: Ich halte einen Rassisten und Völkischen wie Björn Höcke nicht für bürgerlich, nein. Und manche Landtagskandidaten auch nicht. 

Zum einen hat Höcke seine biologistische Äußerung revidiert. Zum anderen: Kann man die ganze Partei nach ihm beurteilen?

Müller-Vogg: Gerade eine junge Partei ist nicht dagegen gefeit, auch Spinner und Radikale anzuziehen. Aber wenn man die nicht will, muß man sich von ihnen schnell trennen. Bei der AfD findet aber genau das nicht statt. Stattdessen ist Parteivize Alexander Gauland, der intellektuellste Kopf in der AfD, voller Verständnis für Höcke, der angeblich an Deutschland leide. An was immer der Herr auch leiden mag – das rechtfertigt weder Rassismus noch Deutschtümelei.

Nochmal: Kann eine Partei mit sechzehn Landesverbänden mit dem Vorsitzenden – gleich was man von ihm hält – eines einzigen, obendrein vergleichsweise kleinen Landesverbandes gleichgesetzt werden? Höcke sitzt nicht mal im Bundesvorstand.

Müller-Vogg: Höcke ist Landes- und Fraktionschef. Das ist keine unwichtige Position – zumal in einer Partei, die bisher nur in fünf Landtagen vertreten war. Sie sollten Herrn Höcke nicht kleinmachen, er ist in der AfD bundesweit ein gefragter Redner.

Man kann also etwa mit Jörg Meuthen in Baden-Württemberg nicht koalieren, weil Höcke in Thüringen im Landtag sitzt?

Müller-Vogg: Auch Herr Meuthen hat in seinen Reihen Kandidaten, mit denen Verfassungspatrioten nicht koalieren können.

Die AfD ist also eine extremistische Partei?

Müller-Vogg: Nein, die AfD ist eine demokratische Partei – sonst würde sie bereits vom Verfassungsschutz überwacht. Aber in der AfD gibt es Leute, die eine andere Republik wollen – das muß man sehen. 

Zum Beispiel? 

Müller-Vogg: Zum Beispiel halte ich es auch für alarmierend, daß die Bundesvorsitzende gezielt Wähler bedient, die der Meinung sind, auf Flüchtlinge sollte an der Grenze geschossen werden. 

Das hat ... 

Müller-Vogg: ... Frauke Petry wörtlich so nicht gesagt – ich weiß. Aber sie wußte genau, welche Wirkung sie mit ihrer Formulierung erzielt. 

Haben nicht vielmehr erst die Medien das daraus gemacht? 

Müller-Vogg: Es gibt in diesem Land genügend Rechtsextreme, die Flüchtlinge am liebsten mit Waffengewalt fernhalten würden. Denen hat Frau Petry Zucker gegeben.

Ist das nicht eine Unterstellung?

Müller-Vogg: Ich glaube nicht. Die AfD ist da sehr geschickt. Der Wortlaut klingt legitim, aber die Intention wird dennoch klar. Und was Parteivize Beatrix von Storch auf Facebook geäußert hat, war doch glasklar. 

Das stimmt, wurde aber von ihr korrigiert. 

Müller-Vogg: Weil sie gemerkt hat, daß sie damit nicht durchkommt. Aber dahinter steckt Methode. Der NRW-Landesvorsitzende Marcus Pretzell, Lebensgefährte von Frauke Petry, hatte schon 2015 mit dem Thema „Schießen auf Flüchtlinge“ angefangen. 

Pretzell sprach von einem „Schuß in die Luft“ und davon, daß „kein Vernünftiger daran denkt, auf Flüchtlinge zu schießen“.

Müller-Vogg: Die AfD bedient ganz gezielt die Rechtsradikalen außerhalb des demokratischen Spektrums. Dazu gehört auch Pretzells Charakterisierung der AfD als „Pegida-Partei“. Das ist kein Zufall: Die AfD provoziert gezielt und will es hinterher nicht gewesen sein. Aber bitte, dies ist ein freies Land. Sie dürfen gerne Verständnis haben; ich habe das nicht. 

Sind die AfD-„Provokationen“ nicht häufig vielmehr ein Produkt der Medien?  

Müller-Vogg: Daß die meisten Medien der AfD immer das Schlimmste unterstellen, ist offenkundig. Wie sie etwa auch linksextreme Gewalt mit mehr Nachsicht behandeln als rechtsextreme. Das ändert aber nichts am teilweise rechtsradikalen Charakter der AfD.

Ist der Erfolg der AfD nicht weniger Ausdruck radikaler Gesinnung als des Verdrusses bürgerlicher Wähler darüber, daß Frau Merkel inzwischen „Wunschskanzlerin der Grünen“ beziehungsweise „gefühlte SPD-Kanzlerin“ ist, wie einige Medien meinen?

Müller-Vogg: Ein Teil der bürgerlich-konservativen Wähler fühlt sich bei der CDU nicht mehr heimisch, seit Angela Merkel die Partei sozialdemokratisiert hat. Darauf habe ich schon früher hingewiesen. In dem Maße, wie die Union konservative Angebote aus dem Schaufenster nimmt, verliert sie ihre daran interessierte Kundschaft, die dann zum neuen Anbieter wechselt – ein normaler Marktmechanismus. Mir wäre es lieber, die Union hätte eine politische Brandmauer nach ganz rechts und die SPD eine nach ganz links. Dann hätten AfD wie Linke keine großen Chancen. Aber natürlich belegt die Existenz der AfD – selbst wenn man mit ihr nicht einverstanden ist –, daß unsere Demokratie funktioniert. Neue Parteien können nur in Demokratien entstehen. 

Die Kanzlerin bleibt bei ihrem Kurs. Sorgt sie also dafür, daß die AfD kein Protestphänomen bleibt, sondern wird diese zum dauerhaften Faktor?

Müller-Vogg: Das ist gut möglich, denn Merkel hat vieles aufgegeben – Stichwort Mindestlohn, Mietpreisbremse, Frauenquote –, wofür die Union seit Jahrzehnten eingestanden ist. In der Flüchtlingspolitik ist es komplizierter: Hier hält die Kanzlerin zwar formal an ihrer ursprünglichen Willkommenspolitik fest – tatsächlich aber ist die Asylpolitik verschärft worden. Es war wohl der strategische Fehler Merkels, nach jenem Wochenende Anfang September, als sie die Grenzen geöffnet hat, nicht zu sagen: Wir haben so gehandelt, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Das heißt aber nicht, daß von nun an jeder zu uns kommen kann! Die Rede, die unlängst EU-Ratspräsident Donald Tusk gehalten hat – Liebe Einwanderer, kommt nicht mehr nach Europa! –, diese Rede hätte Merkel halten müssen. 

Warum hat sie es nicht getan? 

Müller-Vogg: Vermutlich möchte sie sich – aus ihrer Sicht – nicht die Blöße geben, ihren Kurs zu korrigieren. Und es gibt ja auch genügend Medien, die ihr dafür Beifall spenden, während Unionswähler sich abwenden. Vor der Flüchtlingskrise lag die Union in den Umfragen bundesweit bei etwa 42 Prozent, heute kommt sie nur noch auf 35 Prozent. Das allerdings besagt für die Bundestagswahl 2017 gar nichts. Es ist normal, daß die Kanzlerpartei einige Zeit nach der Bundestagswahl in den Umfragen absinkt, bevor es vor der nächsten häufig wieder aufwärts geht. Eigentlich ist es sogar eine erstaunliche Leistung, daß Merkel die Zustimmung nach der Wahl 2013 so lange so hoch halten konnte und diese erst jetzt und erst unter dem Eindruck einer so großen Krise gesunken ist. 

Außer der AfD sind die Grünen in Baden-Württemberg die großen Sieger dieser Wahlen. Warum sind sie so erfolgreich, während die Partei in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt verloren hat?

Müller-Vogg: Ich komme aus Baden und hätte es ehrlich gesagt selbst niemals für möglich gehalten, daß die Grünen es schaffen, sich als ökologisch-katholische CDU und Winfried Kretschmann als grünen Erwin Teufel zu verkaufen. Eine aus Sicht des politischen Marketings großartige Leistung. Wobei zu diesem Erfolg auch die Medien ihren Teil beigetragen haben. Die FAZ etwa lobt Ministerpräsident Kretschmann schon fast dafür, daß er keine Autobahnen hat sperren lassen. Vor allem aber hat die Landes-CDU schwere Fehler gemacht, zum Beispiel Grün-Rot in der Schulpolitik nicht zu stellen: Wenn Sechsjährige über ihre „sexuelle Identität“ nachdenken oder Teenager im Schulunterricht ein Bordell planen sollen, müßte eine Opposition doch Alarm schlagen. Dasselbe gilt für das sogenannte Gender Mainstreaming in Baden-Württemberg: Grün-Rot konnte die CDU-Kritik im Landtag mit Verweis auf entsprechende Papiere aus der CDU/FDP-Zeit abwehren. Also, die Union hat es den Grünen auch leichtgemacht.

Warum? 

Müller-Vogg: Weil manche in der CDU panische Angst davor haben, als altmodisch dazustehen. Und weil es für viele Unions-Politiker offenbar das Höchste ist, in Spiegel, Stern, Zeit oder Süddeutscher Zeitung als „modern“ gelobt zu werden – also von Medien, denen jede Regierung lieber ist als eine von der CDU geführte. 

Dann war der Machtwechsel im Südwesten 2011 kein Betriebsunfall, wie die Union lange angenommen hat?

Müller-Vogg: Zunächst war er wohl vor allem Fukushima zu verdanken. Inzwischen aber droht aus Baden-Württemberg ein zweites Rheinland-Pfalz zu werden. Auch das war über Jahrzehnte eine CDU-Hochburg – ja, es ist bis heute ein strukturkonservatives Land. Dennoch hat die Union dort – damals durch interne Streitereien – die Macht verspielt. 1991 kam ein farbloser Sozialdemokrat namens Rudolf Scharping an die Macht. Seitdem ist die Mainzer Landesregierung in SPD-Hand. Wenn die CDU daraus nicht endlich lernt, könnte uns die AfD länger erhalten bleiben, als uns lieb sein kann. 

Anders als in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz gestaltet sich die Koalitionsbildung in Baden-Württemberg äußerst schwierig. Die FDP will nicht mit Grün-Rot, die SPD nicht mit Schwarz-Gelb und die CDU nicht unter Kretschmann. 

Müller-Vogg: Ich vermute, am Ende wird es auf Grün-Schwarz hinauslaufen.

Die CDU als Juniorpartner der Grünen?

Müller-Vogg: Bevor die CDU neben der AfD in der Opposition sitzt, wird sie die zweitschlechteste Option wählen und mit den Grünen zusammengehen.

Wäre das nicht eine Demütigung sondergleichen und gäbe sie damit nicht für alle sichtbar ihren traditionellen Führungsanspruch im Südwesten auf?

Müller-Vogg: Schon das Wahlergebnis war eine Demütigung – und ja, als Juniorpartner mitzuregieren wäre eine weitere Demütigung. Das gleiche gilt aber für weitere fünf Jahre Opposition. Und aus der Regierung hätte sie bei der nächsten Wahl wohl doch bessere Chancen als aus der Opposition heraus.

Haben wir mit Blick auf die SPD nicht gelernt, daß man als Juniorpartner neben Kretschmann verkümmert?

Müller-Vogg: Das muß nicht so sein. Kretschmann wird nicht ewig regieren, und es gibt Beispiele, wo aus Juniorpartnern schließlich Seniorpartner wurden. 

Wenn sich die CDU zum Steigbügelhalter der Grünen macht, laufen ihr dann nicht die letzten konservativen Wähler weg?

Müller-Vogg: Lange meinte die CDU, um die bürgerlich-konservativen Wähler müsse sie sich nicht kümmern. Inzwischen hat sie sehr viele von ihnen verloren. Es ist also nicht abwegig, nun voll auf Schwarz-Grün zu setzen. Das ist nach meiner Ansicht auch die Strategie Frau Merkels für die Bundestagswahl 2017. 

Oder es kommt zum „Magdeburger Modell“: Die CDU toleriert Grün-Rot. 

Müller-Vogg: Nein, denn die Union würde eine abgewählte Regierung an der Macht halten und selbst neben der AfD in der Opposition sitzen, die dann jeden Antrag der CDU unterstützt und ihr so den Vorwurf einbringt, sie arbeite mit den Rechtsaußen zusammen.

Oder die FDP fällt doch noch um?

Müller-Vogg: Unwahrscheinlich, denn nicht Landeschef Michael Theurer, sondern Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke ist dort der starke Mann – und der hat ganz klar nein zu Grün-Rot-Gelb gesagt.

Warum ist die FDP nach Jahren nun wieder erfolgreich?

Müller-Vogg: Viele ihrer Wähler wollten sie 2013 zwar abstrafen, waren aber entsetzt, als sie tatsächlich aus dem Bundestag flog. Und sie vermissen eine wirtschaftsliberale Stimme in der Politik.

Welche Rolle spielt die FDP-Kritik an der Flüchtlingspolitik für ihren Wahlerfolg?

Müller-Vogg: Das hat sicher nicht geschadet, war aber nicht ursächlich. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die FDP diesen Kurs fortsetzen würde, hätte sie die Option, in Berlin mitzuregieren.

Hat sich die FDP also doch nicht erneuert?

Müller-Vogg: Personell schon. Inhaltlich unterscheidet sie sich nicht wesentlich gegenüber der Zeit vor 2013. Parteichef Christian Lindner wird allerdings darauf achten, daß die FDP nun auch tatsächlich „liefert“. Diese Lektion, das glaube ich schon, hat die Partei gelernt.   






Dr. Hugo Müller-Vogg, war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der FAZ. Seitdem ist er als freier Journalist tätig, unter anderem als Kommentator der Bild-Zeitung, der Superillu und des Nachrichtensenders N24. Vier Jahre lang war er zudem Co-Moderator der Talkshow „3, zwei, eins“ im Hessischen Fernsehen. Der 1947 in Mannheim geborene Volkswirt, Politikwissenschaftler und Autor zahlreicher Bücher gilt als renommierter konservativer Publizist.