© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Visafreiheit als Verhandlungsmasse
Asylkrise: Die Forderung der Türkei, für eine Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik für ihre Bürger Reisefreiheit durchzusetzen, stößt auf wenig Widerstand
Michael Paulwitz

Ankaras Position ist klar: Ohne Aufhebung der Visumpflicht und Reisefreiheit für türkische Staatsbürger in die Länder der EU wird es kein Abkommen über die Rücknahme illegaler  Asyl-Immigranten geben. Längst nicht alle Europäer sind von der Erfüllung  dieser Bedingung so begeistert wie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Für den innen- und außenpolitisch zuletzt unter Druck geratenen türkischen Staatspräsidenten Erdogan wäre das Zustandekommen des von Angela Merkel forcierten Koppelgeschäfts bei der Fortsetzung des EU-Türkei-Gipfels ein Prestigeerfolg. Seit der Einführung der Visumpflicht vor dreieinhalb Jahrzehnten steht die Aufhebung ganz oben auf dem türkischen Wunschzettel. Bereits 2013 hatte die Türkei nach fast zwölfjährigen Verhandlungen ein Rückübernahmeabkommen für illegale Einwanderer mit der EU unterzeichnet; im Gegenzug wurden Verhandlungen über Visa-Erleichterungen aufgenommen. Mit der Verschärfung der Asylkrise ergreift Ankara nicht nur die Chance, dieses nie mit Leben erfüllte Abkommen quasi neu zu  Verhandeln und Europa zur kontingentweisen Aufnahme syrischer Kriegsflüchtlinge aus türkischen Lagern zu nötigen, sondern auch bei Visafreiheit und EU-Beitritt das Tempo zu erhöhen: Nicht erst im Oktober, wie zuletzt Ende 2015 von der EU in Aussicht gestellt, sondern schon im Juni sollen die Reisebeschränkungen fallen. Freilich wäre es eine Ironie, wenn die Visumpflicht für türkische Staatsbürger, die nach Errichtung der Militärdiktatur 1980 nicht zuletzt wegen befürchteter neuer Auswanderungsströme eingeführt worden war, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt fiele, da die türkische Regierung die Repression gegen Oppositionelle und die Kurden wieder verschärft. Zwar befürworten Wirtschaftsverbände eine Visa-Liberalisierung, von der sie sich intensivere Wirtschaftskontakte versprechen, und auch die Tourismusbranche hofft auf Reisende aus der türkischen Mittelschicht. Dem stehen die Bedenken mehrerer CSU-Politiker wie Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer gegenüber, die Abschaffung der Visumspflicht für türkische Staatsangehörige bei Europareisen könne ein „Einfallstor“ für Flüchtlinge werden; der bayerische Innenminister Joachim Herrmann warnt, Deutschland solle sich „mit einer Billigung der Visafreiheit für alle Bürger der Türkei einschließlich der Kurden nicht eine erneute Flüchtlingswelle ins Haus holen“, und verweist auf die „explodierten“ Asylbewerberzahlen aus einigen Westbalkanstaaten nach Aufhebung der Visapflicht. Im Falle der Türkei mit ihren 78 Millionen Einwohnern und einem noch höheren Wohlstandsgefälle hätte die Reisefreiheit indes ganz andere Dimensionen. Vor allem im Zusammenhang mit einem beschleunigten EU-Beitritt und der damit verbundenen Arbeitnehmer- Freizügigkeit entstünde rasch ein Migrationsdruck mit Millionenpotential – und damit eine weitere wirksame „Migrationswaffe“, mit der die Türkei Deutschland und Europa unter Druck setzen könnte. Die autoritär-islamistische türkische Führung hätte es nicht nur in der Hand, durch Repressalien gegen Kurden, Oppositionelle, Säkularisten und andere mißliebige Bevölkerungsgruppen neue Migrantenströme zu erzeugen. Sie könnte auch ihre Bevölkerungsüberschüsse, Arbeitsmarkt- und Sozialprobleme leichter nach Europa exportieren und dort zugleich als Hebel eigener Interessenpolitik einsetzen. CSU steht mit ihren Bedenken allein Ein weiterer Unsicherheitsfaktor sind türkische IS-Terroristen und -Sympathisanten, die ohne Visumpflicht ebenfalls Bewegungsfreiheit in Europa gewinnen könnten. Obwohl Deutschland mit seiner Millionenbevölkerung türkischer Einwanderer das Hauptzielland künftiger türkischen Migrationsströme wäre, spielen die Folgen für Integration, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Sozialsysteme unter dem Eindruck der von Merkel propagierten „europäischen Lösung“ der Asylkrise unter Einbeziehung der Türkei nur eine untergeordnete Rolle. In der Großen Koalition steht die CSU mit ihren Bedenken weitgehend allein, die Opposition versteht sich ohnehin als Lobbyist der Visa-Befreiung für türkische Staatsbürger. Die Vorstöße einiger Unions-Politiker, zumindest noch einige  Vorbehalte einzubauen, haben schon von daher schwache Erfolgsaussichten. So fordert Innenpolitiker Hans-Peter Uhl (CSU), die Türkei als „sicheres Herkunftsland“ einzustufen, um türkische Asylbewerber leichter zurückführen zu können. Die Regierung in Ankara hat allerdings schon mehrfach deutlich gemacht, daß sie alles oder nichts will und von bedingten Visa-Lockerungen wenig hält. Der bayerische AfD-Chef Petr Bystron hält deswegen die Verhandlungen mit der Türkei an sich für einen Fehler und wirft der CSU „inakzeptable Kompromißbereitschaft“ vor. Seine Position, daß Europa die Türkei zur Lösung der Asylkrise nicht brauche, teilen immerhin einige mittel- und osteuropäische Regierungschefs, an deren Veto Merkels „Deal“ mit der Türkei doch noch scheitern könnte.