© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Pankraz,
D. Graeber und die Macht der Bürokraten

Auch aus Leder lassen sich Funken schlagen. Beleg dafür ist das Buch des amerikanischen Großanarchisten David Graeber (55), „Bürokratie. Die Utopie der Regeln“,  dessen deutsche Übersetzung soeben im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta erschienen ist und das zur Zeit auf der Leipziger Buchmesse Furore macht. Vor drei Jahren landete Graeber mit seinem Buch „Schulden. Die ersten 5.000 Jahre“ einen sogenannten Weltbestseller, und Pankraz ist gespannt, ob die „Bürokratie“ den gleichen Effekt auslösen wird. 

An sich ist Bürokratie ja fast für jedermann (und nicht zuletzt für Bücherfeunde) ein Schreckwort ohnegleichen; mit ihm verbunden ist der Geruch ödester Routine, verbissenster Formular-Ausfüllerei. Auch der Anarchist und Occupy-Spezialist Graeber haßt natürlich jede Form von Bürokratie – aber noch mehr haßt er den „Kapitalismus“, besonders in seiner neoliberalen Ausprägung, wo die Unternehmer und Investoren dauernd nach Lockerung bürokratischer Regeln rufen. Aus diesem Zwiespalt zwischen Bürokratiehaß und Neoliberalismus-Haß erwächst eine ziemliche Komik, die Graebers Buch durchzieht.

Einerseits tobt es unentwegt gegen staatliche Bürokratie an, andererseits ruft es ebenso unentwegt nach staatlich festgesetzten, also bürokratischen Regeln und deren striktester „Durchführung“, um die „kriminellen Machenschaften der neoliberalen Kanaille“ zu unterbinden. Graeber versucht sich aus dem Dilemma zu retten, indem er eine veritable Verschwörung zwischen modernem Staat und neoliberaler Kanaille konstruiert. So entsteht in seinen Augen „ein verhängnisvoller Pakt zwischen Kapital und Bürokratie, der die Welt in den Abgrund reißen muß“.


Um den Blick weg von der Apokalpyse und näher an die Realität zu rücken, würde Pankraz fürs erste eine Lektüre von Max Weber empfehlen, dessen Werke ja ebenfalls (bei Mohr/Siebeck) auf der derzeitigen Messe gezeigt werden, zum Beispiel das Buch „Wirtschaft und Gesellschaft“, in dem wohl in einmaliger Weise das Wesen der Bürokratie aufgelistet und erhellend kommentiert worden ist. 

Bürokratie ist laut Weber eine „rationale“ Form von Machtausübung und demzufolge Macht ohne Charisma, nämlich ohne die Fähigkeit, schnell, präzise und allgemein überzeugend auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Ihr wohne zweifellos ein Moment von Routine und automatischem Ordnungswahn inne; die Vorteile, die sie mit sich bringe, überwögen aber bei weitem. Sie schaffe Gerechtigkeit, schütze vor willkürlicher  Ausübung von Staatsgewalt und entlaste unser Leben viel mehr, als daß sie es belaste.

Viele kleine, lästige Detailentscheidungen bleiben uns tatsächlich durch eine gut funktionierende Bürokratie erspart, es entsteht unter ihrem Regime ein Klima von Sicherheit und spontan-alltäglichem sozialen Zusammenhalt. Wiederholt auftretende Fragen werden nach einem vorgefertigten Schema beantwortet, nicht jedes Problem muß jedesmal neu gelöst werden. So geschieht allgemeine Effizienzsteigerung, es ziehen Stabilität und Kontinuität ein, auch Gewissenhaftigkeit etwa bei Datenerhebungen: Bürokratische Formulare dienen der Sammlung verläßlicher Informationen, die für Statistiken und Planungen genutzt werden. können.

Rationalität, notiert der kühle Rationalist Max Weber, ist freilich nicht alles im Leben und so auch in der Politik. Die wahrhaft großen politischen Entscheidungen werden aus momentanen, letztlich „irrationalen“ Massenstimmungen heraus und von charismatischen Machtpersönlichkeiten gefällt. Um so willkommener dann aber das Walten einer gut eingeschliffenen, durch Tradition solide befestigten Bürokratie! Für moderne Massenstaaten ist sie geradezu eine Notwendigkeit. Ohne sie laufen auch die größten Volksabstimmungen und die raffiniertesten Kabinettsbeschlüsse ins Leere.


Zwei Gefahren allerdings bedrohen ständig ihre soziale Seriosität und Funktionalität: erstens die finanzielle Korruption, zweitens die  institutionelle Überheblichkeit und Machtanmaßung. Wobei Deutschland und Mitteleu-ropa, was die Korrumpierbarkeit der Verwaltungen betrifft, bisher wohl noch ziemlich gut wegzukommen scheinen, verglichen mit anderen Weltgegenden, wo man buchstäblich kaum noch über die Straße gehen oder ein Bier bestellen kann, ohne irgendwelchen Beamten Bestechungsgeld zustecken zu müssen. 

Immerhin, auch hierzulande sind Fälle bekannt, wo – beispielsweise bei Ausschreibungen von lukrativen Bauprojekten – hohe Bestechungssummen an Beamte geflossen sind. Und was sonstige Machtanmaßungen angeht, so gibt es schon längst kein Halten mehr. Besonders die EU-Bürokraten in Brüssel, keine charismatischen Originalpolitiker also, sondern angestellte Verwaltungskräfte, operieren wie die eigentlichen Herren Europas. Sie strecken ihre Fangarme krakengleich in alle Lebensbereiche aus und haben die demokratisch gewählten Parlamente zu ohnmächtigen Anhängseln degradiert.

Sie geben vor, die wahren Politiker der Moderne zu sein doch just ihr aufdringliches Streben nach Kompetenz und Perfektion birgt den Keim der Perversion in sich. Aus Regelungsmut wird Regelungswut, bald läuft ohne ihre  Berechtigungsscheine überhaupt nichts mehr, und am Ende ist alles nur noch illusionär, schrotthaltig und absurd – siehe die gegenwärtige Asylkrise. Demokratien verwandeln sich in Superbürokratien, die dem Geist einer wirklich gut funktionierenden Bürokratie hohnsprechen.

Gerade im Zeichen des Internets und seiner vielerorts so sehr gepriesenen und herbeigewünschten „Transparenz“, wo es faktisch kein herrschaftliches Arkanwissen wie in alten, absolutistischen Zeiten mehr gibt, droht diese Gefahr. Die Bürokraten steigen – mag sein, oft ohne es wirklich zu wollen – zum informationellen Souverän auf, und das bedeutet: Die Bürokratie schlägt um in schlimmsten Bürokratismus, in Lebensfeindlichkeit und entfesselte Vorschriftenhuberei. Darüber hätte David Graeber schreiben sollen.