© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Die Wahrheit liegt im Erzählen
Odyssee: „Folge meiner Stimme“ des kurdischen Regisseurs Hüseyin Karabey
Sebastian Hennig

Zu Beginn des Films „Folge meiner Stimme“ hocken drei reisende Barden, kurdische Dengbej, inmitten des versammelten Dorfes auf dem Boden. Zum Schlag einer großen Ringtrommel bringen die blinden Sänger ihre epischen Gedichte zu Gehör. Dieses formgebundene Erzählen, gleichermaßen uralt und immer wieder neu, wird zum Rahmen und zur Botschaft des Films. Zuletzt erscheinen die Sänger noch einmal als Personen der Handlung. In den Bergen werden die Blinden zu Lotsen eines irrenden Paares. Der Frieden des Erzählens bindet das vereinzelte Schicksal in die Signatur der Landschaft ein.

Eingangs aber bricht erst einmal die rauhe Wirklichkeit über ein kurdisches Bergdorf herein. In der Nacht wird es von einer Razzia heimgesucht. Der Leiter der türkischen Einheit winkt mehrfach einen vermummten Denunzianten heran, der hartnäckig darauf besteht, daß in den Häusern Waffen verborgen sind. Als die Soldaten nichts finden, nehmen sie die Männer des Dorfes als Pfand für die vermuteten Gewehre mit. Der Bürgermeister des Ortes bleibt ratlos allein im Lichtkegel der Laterne stehen. Unter den einkassierten Männern befindet sich auch Temo (Tuncay Akdemi), der seine kleine Tochter Jiyan (Melek Ülger) mit ihrer alten Großmutter Berfe (Feride Gezer) zurückläßt. Alle Darsteller sind Laien aus den Dörfern der Originalschauplätze.

Kurz vor dem Einbruch des Verhängnisses hatte die Großmutter dem Mädchen zum Einschlafen die Geschichte vom schlauen Fuchs erzählt. Am nächsten Morgen will die Kleine genauso gewitzt sein und sammelt Gewehre von ihren kindlichen Gefährten ein. Die Großmutter macht ihr klar, daß der Vater damit nicht auszulösen sei. Aber den Lösungsgedanken übernimmt sie.

In paradoxer Verkehrung trachten die Dörfler nun danach, sich Waffen zu beschaffen, um ihre Friedenswilligkeit mit deren Abgabe zu beweisen. Es ereignet sich ein Märchen, welches dem ähnelt, das die Großmutter der Enkelin im Film erzählt. Die unwiderlegbare Wahrheit dieses Märchens liegt im Erzählen.

Hier herrschen nicht Staat und Gesetz, sondern Stamm und Sippe. Dabei bleibt kein Zweifel, daß der Blick auf die vorzivilisatorische Gemeinschaft eine Projektion des zivilisierten Großstädters ist. Von den Bildern der Natur und dem steten Lauf der Handlung wird das Leid und die Verunsicherung der Menschen aufgefangen. Die Berge, samt den Ausblicken auf die versöhnliche Weite der Meeresfläche, sind der große Zusammenhang, in den das kleine Leid der Menschen eingespannt bleibt, und die wirre Zerteilung einer ewigen Landschaft mit Sperren und Schranken.

Die Habgier des Schmugglers und des korrupten Soldaten wird gemildert von Formeln der Höflichkeit. Als die Alte sich mit der Enkelin als gescheiterte Bittsteller auf den Rückweg von einem Häuptling begeben, werden sie von einer Anhöhe aus durch zwei Alte an einem Teetisch beobachtet. Die zahnlosen Greise sinnieren über ihre weit zurückliegenden Jugendjahre, welche sie mit Berfe teilten. Die blinden Rhapsoden lassen den Zuschauer bemerken, wie das Schöne auch außerhalb seiner Sichtbarkeit Bestand hat. Die banale Zwietracht der jüngsten Geschichte rückt zwischen diesen Bergen ins Mythische. Das Gesicht des Mädchens hat kaum etwas Kindliches an sich und wirkt zuweilen, als wäre es Jahrtausende alt.

Der kurdische Regisseur Hüseyin Karabey hatte nicht die Absicht, die Verfolgung einer Minderheit durch einen Militärstaat ins Zentrum des Films zu rücken. Und doch wurde ihm gerade hierzulande vorgeworfen, er trage zuwenig zum Verständnis des Konflikts zwischen Türken und Kurden bei. Auf den aufmerksamen Zuschauer dieser schönen Filmerzählung wirkt diese Beanstandung geradeso verfehlt, als würde einer Verfilmung von „Heidis Lehr- und Wanderjahren“ vorgeworfen, die Zerstörung der Alpen durch den Skitourismus nicht in den Mittelpunkt zu rücken.

Karabey hat seine Arbeit sehr gut gemacht. Wie alle Kunst wirkt sich auch die Filmkunst stärker politisch aus, wenn sie das nicht geradewegs zu sein vorgibt. Karabey sagt es ganz klar: „Ich bin nicht darauf aus, eine rücksichtslose politische Meinung über die Situation abzugeben, weil wir alle wissen, daß eine schlechte Situation Verluste und Leid auf beiden Seiten beinhaltet. Deshalb bevorzuge ich eine Geschichte, die beides mit sich bringt: Lachen und Tränen.“

Die Menschlichkeit erweist sich zuletzt nicht in der Behauptung der Gleichheit, sondern durch die abstufende Geltung des Geistes. Die Soldaten sind auch nur Jungen des Landstrichs, die ihren Dienst ausführen. So folgt der uniformierte junge Mann nur widerstrebend dem Befehl, den alten Sänger zu durchsuchen. Was er dabei unerwartet ertastet, verschweigt er dem Vorgesetzten. Ungehörig wäre es für ihn, das Verhalten eines weisen Dengbej nach den gewöhnlichen Vorschriften zu messen.

Bei der Heimkehr ins Dorf hält die kleine Gesellschaft eine Rast im Schatten dreier Bäume. Die blinden Barden halten ihre Taststöcke kniehoch über dem Boden, damit das Mädchen über sie als Hürden hüpft. Die Farben, das Licht, der ruhige Erzählfluß und die Unbestimmtheit stellen eine Wohltat dar inmitten eines Kinos der unbedingten Gewißheiten, der künstlichen Beleuchtung und der schnellen Schnitte.