© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

War es doch eine Verschwörung?
Der Kirow-Mord von 1934: Ein russischer Kriminologe zweifelt die offizielle Tatversion an
Jürgen W. Schmidt

Was für die Amerikaner der Kennedy-Mord vom Jahr 1963 ist, das ist für die Russen der Mord an Sergej Kirow 1934. In beiden Fällen wurde ein vergleichsweise beliebter Politiker ermordet, und in beiden Fällen hatte das spürbare politische Auswirkungen für das betreffende Land. Doch galt bislang der Mord an Kirow, im Gegensatz zum Kennedy-Mord, als zweifelsfrei geklärt (JF 50/2014). Demnach hatte ein kleiner Sowjetfunktionär namens Nikolajew den Leningrader Parteichef Kirow aus Eifersucht erschossen, was Stalin zum Anlaß der großen politischen Säuberungen in der Sowjetunion nahm. Diese von russischen Historikern nach 1990 mehrfach bekräftigte Tatversion hat nun ein namhafter russischer Kriminologe entschieden bestritten. 

Tatumstände deuten auf Mithelfer oder Mittäter hin

Professor Aleksandr Bastrykin besitzt langjährige kriminalistische Erfahrung und konnte mittels Genehmigung des russischen Geheimdienstchefs Bortnikow die im FSB-Archiv aufbewahrte Morduntersuchungsakte Kirow, bestehend aus 58 Aktenbänden mit Befragungsprotokollen, Tatortskizzen, Leichenfotos und Sektionsgutachten, einsehen und auswerten. Bastrykin geht in seinem soeben in Moskau erschienenen Buch davon aus, daß das NKWD bei der Mordaufklärung zwar pfuschte, jedoch nichts bewußt vertuschte, als man den vorgeblichen Täter Nikolajew am Tatort mit dem sprichwörtlichen „rauchenden Colt“ in der Hand festnahm und sich dieser anschließend freiwillig der Tat bezichtigte. 

Deswegen kam man gar nicht auf die Idee, andere Spuren zu verfolgen, was gemäß Bastrykin ein häufiger Fehler von Untersuchungsbehörden bei der Aufklärung von Kriminalfällen ist. Laut der offiziellen Version soll sich Nikolajew in den gut bewachten Leningrader Smolny eingeschmuggelt haben. Danach habe er hocherregt Kirow zur Rede gestellt und niedergeschossen. Dieser Tatablauf läßt sich gemäß Bastrykin allerdings weder mit den Spuren am Tatort noch mit den Zeugenaussagen in Übereinstimmung bringen. Zudem deuten die Tatumstände darauf hin, daß Nikolajew zumindest Mithelfer, wenn nicht gar Mittäter besessen hat. 

Der Kriminologe hält es nämlich für keineswegs ausgeschlossen, daß der nervenkranke Nikolajew sich fälschlich der Tat bezichtigte und der Mord von einer ganz anderen Person ausgeführt wurde. Grundlage für seine Überlegungen sind eine Reihe bislang unbekannter Fakten, welche Bastrykin beim Aktenstudium auffielen. So entschied sich Kirow am Mordtag erst um 16 Uhr spontan dazu, den Smolny aufzusuchen, wo ihn Nikolajew abpaßte und wortlos um 16.30 Uhr niederschoß. 

Nikolajews rekonstruierter Tagesablauf weist exakt vor dem Mord eine Lücke von einer Stunde auf, die seinerzeit nicht gefüllt werden konnte. Auch ist der konkrete Tatablauf unklar, weil es, entgegen allen bisherigen Annahmen, zwar einige „Ohrenzeugen“ der beiden Schüsse, aber keinen einzigen Augenzeugen gab, Nikolajew einmal ausgeklammert. Zudem bezweifelt Bastrykin, daß der kranke, stark erregte Nikolajew in der Lage war, auf mehrere Schritt Entfernung mit ruhiger Hand Kirow plaziert ins Zentrum des Hinterkopfs zu schießen, was diesen sofort tötete. 

Kriminologe gibt Hinweis auf Kirows Bürochef 

Immerhin brach Nikolajew unmittelbar nach der Tat körperlich zusammen und mußte wegen seines schlechten Zustandes erst einmal fünf Stunden intensiv ärztlich betreut werden, bevor man ihn verhören konnte. Außerdem konnte man nie klären, warum ein zweiter Schuß aus der Tatwaffe in die Korridordecke abgegeben wurde, denn der exzellent plazierte erste Schuß hatte Kirow auf der Stelle getötet. Nikolajew konnte diesen zweiten Schuß seinerzeit nicht erklären, denn gemäß seinen Aussagen habe ihn sofort nach Abgabe des ersten Schusses ein (niemals ermittelter) „Mann in GPU-Uniform“ (Geheimpolizist) k. o. geschlagen. 

Ob der Schuß, welcher Kirow tötete, tatsächlich der erste Schuß aus der Tatwaffe war, bleibt folglich unklar, ebenso wie der zeitliche Abstand beider Schüsse. Einige Zeugen meinten, die Schüsse wären ganz kurz aufeinander erfolgt. Andere Zeugen glaubten sich an einen Abstand von wenigstens 30 bis 60 Sekunden zu erinnern. Zwei völlig unterschiedliche Aussagen binnen kurzer Zeit lieferte ausgerechnet jener Zeuge, welcher als erster den Tatort erreichte. Es handelte sich um einen Haushandwerker, der anfangs nur angab, Kirow habe in jenem Moment schon unbeweglich am Boden gelegen, während Nikolajew, gerade ohnmächtig werdend, zu Boden glitt. Kurze Zeit darauf behauptete derselbe Zeuge, persönlich und todesmutig Nikolajew mit seinen Fäusten niedergeschlagen und ihm dabei den Revolver entrissen zu haben. 

Letzteres behaupteten später zusätzlich noch zwei andere Zeugen von sich, so daß die Konfusion kein Ende nahm. Ebenso zerpflückt Bastrykin das Sektionsprotokoll der Leiche, wo man seinerzeit einen „Nahschuß“ in den Hinterkopf mit 45 Grad Steigungswinkel des Schußkanals festgestellt haben wollte, was auf den kleinwüchsigen Nikolajew als Täter hindeutete. Gemäß Bastrykin erfolgte der Todesschuß jedoch nicht als Nahschuß, sondern aus größerer Entfernung. 

Trotzdem ist sich der russische Kriminologe sicher, den Mord an Kirow heute noch aufklären zu können. Dazu müsse man nur unter Aufsicht erfahrener Kriminalisten, Ballistikexperten und Gerichtsmediziner im Smolny die Ereignisse vom 1. Dezember 1934 im Experiment nachstellen. Obwohl Bastrykin sich bei den möglichen Mordmotiven und politischen Hintergründen bedeckt hält – immerhin sei er kein Historiker oder Politologe –, gibt er ganz nebenbei einen Hinweis. Kirows damaliger Bürochef habe nach dem Mord eine Delegierung zu einem prestigereichen Studium erhalten und anschließend jahrzehntelang eine hohe Stellung in der sowjetischen Wirtschaftsbürokratie bekleidet. 

Foto: Stalin und Woroschilow (Bildmitte) bei der Trauerfeier für den erschossenen Kirow, Moskau 1934: Anlaß für die politischen „Säuberungen“