© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Der ganz normale Wahnsinn
Eine detaillierte Studie über die „Jahrhundertschlacht“ um Verdun des US-Historikers Paul Jankowski
Christian Millotat / Manuela Krüger

Die Schlacht um Verdun, die am 21. Februar 1916 begann und bis zum Dezember 1916 dauerte, ist die letzte Schlacht, die Frankreich ohne Verbündete gewann. Die Verlustzahlen in ihr sind umstritten. Nach  dem Reichsarchivwerk standen 336.831 deutschen 362.000 französische Verluste gegenüber mit insgesamt 495.000 Gefallenen. Der US-amerikanische Historiker Paul Jankowski, Professor für Geschichte an der Brandeis University in Boston, nennt in seinem 2015 in deutscher Sprache erschienenen Buch über Verdun 373.882 deutsche und 373.231 französische Verluste und 300.000 Gefallene, die in neuen Untersuchungen ermittelt worden seien. 

Jankowski stellt heraus, daß die Schlacht um Verdun, obwohl keine Entscheidungsschlacht wie Waterloo 1815, Sedan 1870 und Kursk 1942, in Deutschland und Frankreich als solche interpretiert worden sei. Für die Deutschen sei die Schlacht um Verdun als Parabel menschlicher Willenskraft und  Verrat am einfachen Soldaten durch die Oberste Heeresleitung unter General Erich von Falkenhayn, dem Planer und Leiter der deutschen Operationen, in Frankreich als Sinnbild nationalen Heldentums interpretiert worden. 

Falkenhayn wurde in Frankreich nach Bekanntwerden seiner Ausblutungsstrategiepläne für die französische Armee, die er in seinen Erinnerungen 1919 beschrieben hatte, zum dämonischen Moloch stilisiert, die Schlacht als militärischer Vampirismus charakterisiert und  verdammt. Nach dem Ersten Weltkrieg habe sich in Frankreich die Auffassung verbreitet, seine Bürgersoldaten, die Poilus, hätten die deutschen abgewehrt und mit dieser heroischen Tat das Land neu  gestaltet. Dort hätten ihr nachwachsende Generationen immer mehr Bedeutung beigemessen. Am 11. Mai 1995 habe Staatspräsident Chirac die Schlacht um Verdun in neuer Interpretation zum „Symbol des Krieges“ und Verdun in der Gegenwart als Welthauptstadt des Friedens gekennzeichnet.

Verdun war nicht die verlustreichste Schlacht

Jankowski will mit seinem Buch die Geschichte der Schlacht erzählen und hierzu die Art und Weise ihrer bisher dargestellten Geschichte mit neuen Erkenntnissen kombinieren und eine Anthropologie des Soldaten beider Seiten erarbeiten. Er benutzte bisher unveröffentlichte französische Dokumente, aber auch viele deutsche, britische und amerikanische Quellen, und er hat die wichtigste Memoirenliteratur und die offiziellen Darstellungen der Schlacht sehr gründlich ausgewertet und einbezogen. 2013 erschien sein Buch in Frankreich unter dem Titel „Verdun 21 février 1916“, der deutsche Titel lautet bombastisch „Verdun. Die Jahrhundertschlacht“.  

Dabei war Verdun weder die verlustreichste noch operativ anspruchsvollste Schlacht des Ersten Weltkrieges. Auch Jankowski stellt heraus, wie der unvermutet erfolgreiche Angriff der Deutschen in dieser Schlacht während seiner ersten Tage rasch von den Franzosen aufgefangen werden konnte, und daß in den darauffolgenden zehn Monaten wie in Zeitlupe die gleiche Gefechtsentwicklung immer wieder in beiden Richtungen erfolgt sei: Angriff, Verteidigung und Gegenstoß, unterstützt von immer mehr Artilleriekräften, neuen Kampfmitteln wie Gas, Luftstreitkräften, mit neuen taktischen Einsatzgrundsätzen sowie  Gliederungsformen wie Sturmbataillonen und Stoßtrupps mit gemischter Waffen- und Kampfmittelausstattung, um die Verluste der Infanterie zu vermindern. 

Dies auf einem Schlachtfeld von 22 Kilometern Breite und zwölf Kilometern Länge, das man in unserer Zeit einer Kampfbrigade zuweisen würde. Jankowski stellt wie viele deutsche Militärhistoriker zutreffend heraus, wie die Deutschen mit nur neun Divisionen, auf die Wirkung ihrer zunächst überlegenen Artillerie vertrauend, taktisch falsch zunächst nur auf dem Ostufer der Maas angegriffen und die rechte Flanke ihrer Angriffstruppen flankierendem, verlusteträchtigem Feuer der Franzosen ausgesetzt hätten. Er stellt dar, wie sich nach Ausweitung der Operationen auf beide Maasufer die Schlacht zur Abnutzungs- und Zermürbungsschlacht für Angreifer und Verteidiger entwickelte und am Ende die Verluste beider Seiten fast gleich hoch waren. Keiner Seite sei ein Durchbruch, Flankenangriff oder eine Umfassung gelungen. Falkenhayn habe aus der Heeresreserve, die er für andere Operationen habe aufsparen wollen, keine weiteren  Kampftruppen für Verdun zur Verfügung gestellt und damit die deutschen Erfolge der ersten Tage für einen möglichen Durchbruch durch die französischen Linien ungenutzt verstreichen lassen. Auch habe er mehrfach erwogen, die Schlacht abzubrechen. 

Die neueren und neusten deutschen Arbeiten über die Schlacht um Verdun, hier zu nennen sind die Falkenhaynbiographie von Holger Afflerbach von 1994 und Olaf Jessens Buch von 2014, haben die angebliche, bis heute nicht aufgefundene Denkschrift Falkenhayns, die er dem Kaiser im Dezember 1916 mit dem Konzept des Ausblutens der Französischen Armee bei Verdun vorgelegt haben will, als nachträgliche Rechtfertigungsschrift des Generals und Fälschung entlarvt. Sie haben darüber spekuliert, wie es Jankowski ausdrückt, ob die Schlacht um Verdun ein Teilstück der Sequenz eines längeren Drehbuchs Falkenhayns über das Ziel des Ausblutens der französischen Armee hinaus war, um den Bewegungskrieg an der Westfront wieder in Gang zu bringen. All das hat Jankowski knapp und zutreffend dargestellt.

Er hat aber darüber hinaus mit seiner Arbeit eine Wissenslücke bei deutschen Lesern gefüllt: Deutsche Autoren, die alle Akteure akribisch durchleuchtet haben, die auf deutscher Seite die Schlacht um Verdun planten und führten, stellten Wollen und Handlungen der französischen Akteure eindimensional und vereinfacht wie folgt dar: Nachdem die Deutschen beinahe bis zur letzten Verteidigungslinie der Franzosen vorgestoßen seien, habe der Oberkommandierende aller französischen Armeen, General Joseph Joffre, den bislang unbekannten General Philippe Pétain zum Oberbefehlshaber der 2. Französischen Armee ernannt und mit der Verteidigung von Verdun beauftragt, die diesem gelungen sei. 

Jankowski stellt dar, daß Joffre zunächst nicht verstanden habe, warum die Deutschen bei Verdun angriffen, eine 1914 auf seine Veranlassung hin abgerüstete frühere Festung, deren Artillerieausstattung von ihm auf das französische Heer verteilt worden sei, und die er als befestigten Raum von Verdun in das System der Feldbefestigungen der französischen Front einbezogen hatte. Er habe vermutet, so Jankowski, die Deutschen hätten zum Ziel gehabt, die französischen Kräfte einzukreisen. Er erwähnt, daß Joffre bereit gewesen sei, Verdun aufzugeben, und nicht daran gedacht habe, von seinem mit Feldmarschall Douglas Haig im Dezember 1915 in seinem Hauptquartier verabredeten Plan, im Sommer 1916 an der Somme eine französisch-britische Großoffensive gegen die Deutschen zu führen, wegen Verdun Abstand zu nehmen.

Jankowski arbeitet heraus, daß der französische Generalissimus viel stärker als Falkenhayn von der französischen politisch-strategischen Ebene abhängig war. Nach der französischen Verfassung von damals sei im Kriegsfall die Regierung für die politischen, das Oberkommando für die operativen Planungen verantwortlich und damit der  Primat der Politik im Kriege stärker als in Deutschland gesichert gewesen. Und er stellt dar, wie sich der Vorsitzende des französischen Ministerrates, Ministerpräsident Aristide Briand, persönlich engagiert habe, Joffre zu zwingen, Verdun um jeden Preis zu halten, weil er bei seiner Aufgabe einen Verfall der Kampfmoral der Armee und des Widerstandswillens im Krieg in der Öffentlichkeit befürchtet habe. Bei einem Besuch in Joffres Hauptquartier habe Briand allen französischen Offizieren, auch Joffre, die Entlassung angedroht, wenn sie Verdun aufgeben würden. Joffre schwenkte ein und stellte starke Kräfte für das Halten von Verdun zur Verfügung. Sein Zögern hat 1916 zu seiner Ablösung durch General Robert Nivelle geführt.

Die Schlacht wurde propagandistisch aufgeladen

Jankowski beschreibt detailliert, wie die Schlacht um Verdun im Verlauf des Ersten Weltkrieges und vor allem danach immer mehr zum Kampfplatz zwischen französischer Zivilisation und deutscher Barbarei von Schriftstellern, in den Medien und in der Öffentlichkeit  emotional aufgeladen worden sei. Diese Entwicklung sei vom französischen Oberkommando abgelehnt worden, weil die unterstellten Truppenführer und Soldaten den deutschen Gegner geachtet hätten. Der Autor beschreibt bildhaft das Zerbröckeln der Disziplin der Soldaten im Verlauf der Schlacht, auch wegen schlechter Verpflegung, unzureichender Sanitätsversorgung und vor allem wegen der wenigen Kontaktmöglichkeiten mit ihren Familien. In der Darstellung aller dieser Facetten der französischen Seite liegt der Hauptwert von Jankowskis Arbeit für deutsche Leser.

Die Proportionen von Jankowskis Buch sind unausgewogen. Sie wirken oft unlogisch aufgebaut und sprunghaft. Er hat die Arbeit in elf Abschnitte geteilt und mit Überschriften versehen, deren Inhalte aber nicht scharf voneinander zu trennen sind. Sie überlappen  sich vielfach, enthalten unnötige Wiederholungen von bereits Dargestelltem und erschweren das Verständnis für das Geschehen in der Schlacht. 

In der deutschen Übersetzung von Jankowskis Buch finden sich zahlreiche Fehler bei der Beschreibung von Dienstgraden und Dienststellungen der handelnden Soldaten: Der Chef der Operationsabteilung des Deutschen Feldheeres, Oberst Gerhard Tappen, war nicht Generaloberst, Joffre war Oberkommandierender aller französischen Armeen und nicht Chef des Generalstabes. Das sind nur einige Beispiele. Hinzu kommen Stilblüten, die wohl bei der Übersetzung entstanden sind. 

Diese Fehler wären bei Durchsicht der Arbeit durch einen deutschen Generalstabsoffizier vermeidbar gewesen. Sie mindern jedoch den Wert der Teile der Arbeit nicht, in denen die französischen Verhältnisse in der Schlacht um Verdun deutschen Lesern vermittelt werden und eine Lücke schließen. Das Ziel, eine Anthropologie des Soldaten in der Schlacht um Verdun zu zeichnen, ist dem Autor für die französische Seite weitgehend gelungen.






Generalmajor a.D. Christian Millotat ist Leiter des Regionalkreises Südwest der Clausewitz-Gesellschaft.

Paul Jankowski: Verdun. Die Jahrhundertschlacht. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015, gebunden, 432 Seiten, 26,99 Euro

Foto: Deutsche Soldaten während der Schlacht von Verdun 1916: Anfangserfolge sind verpufft