© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Freiheit mit digitaler Aufmüpfigkeit
Der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie beschreibt Whistleblower als Verteidiger individueller Freiheitsrechte gegen die Anmaßungen des Staates
Herbert Ammon

Kurz nach dem 11. September 2001 schränkte der US-Kongreß im Zuge des „Kriegs gegen den Terrorismus“ den Schutz der Privatsphäre von verdächtigen US-Bürgern ein. Bald darauf landeten die ersten Terrorismus-Verdächtigen im Lager von Guantánamo. Das moralische Gegenbild zu derlei häßlicher Praxis bietet wiederum die in den USA beheimatete Tradition des zivilen Ungehorsams. 

Als einer der Stammväter gilt Henry David Thoreau, der aus Protest gegen den Mexiko-Krieg (1846–1848) sowie als Gegner der Sklaverei für einen Tag ins Gefängnis des Staates Massachusetts ging. Auf Thoreau („Civil Disobedience“, 1849) sowie auf den libertären Harvard-Philosophen Robert Nozick („Anarchy, State, and Utopia“, 1974) bezieht sich Geoffroy de Lagasnerie, ein an der École nationale supérieure d‘arts de Cergy-Pontoise (ENSAPC) lehrender „neuester Philosoph“. Anders als etwa Bernard-Henry Lévy, der Nicolas Sarkozy zum Krieg gegen den libyschen Diktator Gaddafi überredete, würde er die Vorstellung, die westlichen Werte seien universell mittels staatlicher Gewalt durchzusetzen, wahrscheinlich ablehnen. 

Dies jedoch nicht, weil er den Ideenexport als solchen ablehnte, im Gegenteil: Lagasnerie, Vorkämpfer der Homosexuellenbewegung, sieht sich in bester Tradition des globalen emanzipatorischen Fortschritts: „Die gesellschaftliche Welt ist zum Glück ein Ort, an dem unablässig neue Gegenstände des Protests, neue Empörungen und daher neue Kämpfe entstehen, die dazu beitragen, für jeden von uns den Raum der Freiheit, der Gleichheit und der sozialen Gerechtigkeit zu erweitern.“ Der hohe Ton, insbesondere in Proklamationen der Gleichheit, zeichnet die französische ENSAPC seit je aus.

Im Gefolge von Michel Foucault, der darauf zielte, den repressiven Charakter der auf dem Boden der Aufklärung erwachsenen Diskurse und Institutionen als Unterwerfungsmechanismen, als „Enteignung des Subjekts“ aufzudecken, geht es Lagasnerie um die Verteidigung und Ausweitung der individuellen Freiheitsrechte gegen die Anmaßungen des Staates. Er versteht sich als radikaldemokratischer Denker im postmodernen Zeitalter, das geprägt ist von der Globalisierung aller Lebensbezüge, nicht zuletzt im Zeichen des Internets. 

Das Netz eröffne dem bis dato von staatlichen Grenzen und Gesetzen eingeengten, von den Nationalstaten als Staatsbürger reklamierten Individuen neue politische Chancen: die „Kunst der Revolte“. Das Netz eröffne eine neue postnationale, gleichsam grenzenlose Bühne. Auf dieser könne sich jedermann als Subjekt „neu erfinden“ – Benedict Anderson („Imagined Communities“) wird als Kronzeuge zitiert –, Zutritt zum inneren Kreis der Mächtigen verschaffen, diese demaskieren, zur Verantwortung rufen und sogleich wieder in die Anonymität verschwinden. Entsprechend ziert die von Internet-Aktivisten im Umfeld von „Anonymous“ bevorzugte Guy-Fawkes-Maske den Umschlag des Buches.

Unter Verzicht auf biographische Details kürt Lagasnerie die „Whistleblower“ Snowden, Assange und Manning zu Helden auf der Bühne des transnationalen Widerstands. Nun, es ist bekannt, daß Edward Snowden bei Putin Asyl gesucht hat, während Julian Assange, Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, in der ecuadorianischen Botschaft in London festsitzt. An WikiLeaks übermittelte Chelsea Manning, als Bradley Manning in die US-Army eingetreten, Informationen über kriegsrechtswidrige Luftangriffe auf Zivilisten sowie über die Zustände in Guantánamo. Manning vertraute die Aktion einem User im Internet an, der wiederum die Spionageabwehr der US-Army informierte. Von einem Militärgericht wurde der Transsexuelle (seit 2014 Chelsea) zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Amnesty International und zahlreiche Prominente fordern seither die Freilassung.

Ohne sich als Anarchist zu bezeichnen, weist Lagasnerie die – maßgeblich im „Gesellschaftsvertrag“ Rousseaus verankerte – Idee des als Quelle und Garanten des Rechts agierenden Staates ab. Jeder Staat, eben auch der sich demokratisch legitimierende Nationalstaat, beruhe auf Abgrenzung nach außen, somit auf Exklusion. Darüber hinaus verfüge er, obgleich als Rechtsstaat konstituiert, über das Recht, den Ausnahmezustand zu verhängen. Als Zeugen ruft er Giorgio Agamben auf, der Name Carl Schmitt bleibt unerwähnt. Gegen die Anmaßungen des Staates, auch wenn er als liberale Demokratie auftritt, sei im Namen der „neuen“, radikalen Demokratie Widerstand geboten und möglich.

Womöglich avanciert die „Kunst der Revolte“ zum Kultbuch der jüngsten Protestgeneration. Indessen dürften die Gedankengänge zur jüngsten Emanzipation trotz mustergültiger Übersetzung – störend wirkt nur der wiederkehrende Begriff „Dispositiv“ – den meisten Adepten verborgen bleiben. Die vom Autor abgelehnten etablierten Mächte werden sich kaum beeindrucken lassen.

Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, gebunden, 140 Seiten, 19,95 Euro