© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Pädagogik wird zum neoliberalen Projekt
Der Philosoph Christoph Türcke hat eine bemerkenswerte Streitschrift gegen aktuelle „Lernkulturen“ und den „Inklusionswahn“ an deutschen Schulen vorgelegt
Wolfgang Kaufmann

Der klassische Lehrer, der vor seinen Schülern steht und sogenannten „Frontalunterricht“ erteilt, gilt heutzutage als verachtenswertes Relikt eines autoritären Obrigkeitsstaates, das nicht in die „neue Lernkultur“ paßt, welche durch die Vermittlung von Kompetenzen und eine umfassende Inklusion geprägt sein soll. Dabei bringt dieses Bildungskonzept in zunehmendem Maße „Kompetenzkrüppel“ hervor, „die erschreckend wenig wissen, weil sie zwar alles googeln können, aber unfähig sind, sich in Sachverhalte so zu vertiefen, daß sie ihnen zu eigen, vertraut, lieb und wert werden“. 

Das jedenfalls ist die Meinung von Christoph Türcke, der bis 2014 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Philosophie lehrte und nun eine eloquente Streitschrift mit dem Titel „Lehrerdämmerung“ vorlegt, in der er kein gutes Haar an den momentan so vielbeschworenen Kompetenzen läßt: Letztendlich liefen die doch sämtlich auf sogenannte „soft skills“ hinaus, also eigentlich völlig selbstverständliche, da basale kulturelle und soziale Techniken, die kaum etwas mit Bildung zu tun hätten, während „hard skills“ wie die Befähigung zum fehlerfreien Kopfrechnen oder zur Verwendung einer vernünftigen Rechtschreibung auf der Strecke blieben, weil deren konsequente Vermittlung angeblich die Würde der Kinder verletze.

Noch schlimmer, so Türcke weiter, sei freilich der „Inklusionswahn“. Natürlich wirke es zunächst einmal höchst menschenfreundlich, „alle Schüler mit ihrer Vielfalt an Kompetenzen und Niveaus aktiv am Unterricht teilnehmen zu lassen“, doch bei genauerer Betrachtung bedeute Inklusion nichts anderes, als die Anforderungen für alle drastisch zu senken, auf daß ja keiner zurückbleibe. 

Zudem erlaube die Inklusion – konsequent zu Ende gedacht – jedweden Unfug: „Warum Grundschüler von weiterführenden Schulen ausgrenzen, Schüler von Studenten, Graduierte von Postgraduierten? Vorschulkinder im Doktorandenkolloquium: Was wäre das für ein ungeahntes Geben und Nehmen!“ Doch das störe den Staat nicht, weil der auf diese Weise deutlich weniger Geld für Bildung aufzuwenden brauche. Damit entpuppe sich die Inklusion als ein lupenreines neoliberales Projekt, was aber leider fast niemand hierzulande begreife. 

Vor allem nicht die Linke, welche die „neue Lernkultur“ maßgeblich mit salonfähig mache, weil sie von „diskriminierungsfreien Räumen“ träume und in keiner Weise realisiere, wie blauäugig sie dabei die Geschäfte des Erbfeindes, nämlich des Kapitalismus, besorge. Aufgrund dessen sei es dann auch vergeblich, darauf zu hoffen, daß die Politik das fatale Bildungsexperiment beende.

Dies können nach Türckes Ansicht nur die Lehrer selbst, welche in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu „Kompetenzbeschaffungsgehilfen“ und „Inklusionspädagogen“ degradiert wurden. Sie sollten endlich mit der oktroyierten Eigendemontage aufhören und sich auf ihre Grundbestimmung zurückbesinnen, vor der Klasse Sachverhalte zu erläutern und aufzuzeigen, statt im „deregulierten Unterrichtsraum“ Schüler durch das gruppenweise „Selbststudium“ zu „begleiten“. Das erfordere natürlich Haltung und ein „mentales Rückgrat“, also das Ausscheren aus der Masse der „Flexiblen“, die den persönlichen Einstellungswechsel „genauso geschwind vollziehen wie eine Kamera“, wenn es denn von oben gewünscht werde.

Türcke hat seinen Buchtitel „Lehrerdämmerung“ somit nicht depressiv und endzeitlich gemeint, sondern hoffnungsvoll und aufmunternd: Den Lehrern müsse nun dämmern, was falsch laufe und daß es an der Zeit sei, für den Erhalt und das Ethos ihres Berufes zu kämpfen. Dann, so die abschließende Aussage des Werkes, würde eine politisch-kulturelle Orientierungsdebatte beginnen, welche das Potential hätte, die Grundfesten der neoliberalen Welt zu erschüttern und den dringend notwendigen allgemeinen Mentalitätswandel einzuleiten.

Christoph Türcke: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur an unseren Schulen anrichtet. Verlag C. H. Beck, München 2016, broschiert, 159 Seiten, 14,95 Euro