© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/16 / 25. März 2016

Ankara räumt den Spieltisch ab
Flüchtlingsabkommen: EU gibt Zusagen, die sich die herrschende AKP künftig auch innenpolitisch zunutze machen wird
Marc Zoellner

Noch einmal werden Schultern geklopft und Hände geschüttelt, noch einmal wird symbolisch einträchtig in die Kamera gelächelt: Denn immerhin, so tönt es von Juncker bis Merkel, von Tusk bis Davutoglu, sei am vergangenen Freitag in Brüssel ein historisches Abkommen getroffen worden. Ein Abkommen, welches nicht nur „darauf zielt, den Strom der irregulären Migration von der Türkei nach Europa zu stoppen“, erklärt Donald Tusk, der Präsident des EU-Rats im Anschluß stolz auf der Pressekonferenz. 

Mit diesem Abkommen soll endlich auch dem Treiben der Menschenschmuggler in der Ägäis das Handwerk gelegt werden; jenen mafiösen Banden in den Fracht- und Passagierhäfen Kleinasiens, die allein im vergangenen Jahr über 800.000 Flüchtlinge illegal über die Ägäis nach Europa verschifften und dabei für den Tod von rund 3.700 Menschen verantwortlich waren.

Nicht alle EU-Staaten wollen dem Pakt folgen

Doch auf der insgesamt bereits neunten Flüchtlingskonferenz seit Beginn der Flüchtlingskrise gab es diesmal nur einen Sieger, und der heißt Türkei. Dabei brauchten Ankaras Diplomaten nicht einmal hoch zu pokern: Schließlich sah die EU, am anderen Ende des Tischs sitzend, sich geradezu gezwungen, öffentlichkeitswirksam und unter dem Druck der Bilder aus Idomeni ihr Gesicht zu wahren, konstruktiv zu debattieren sowie natürlich ihre Mitgliedsstaaten nach den Dissenzen der vergangenen Konferenzen einmal mehr im Schulterschluß abzulichten.

Daß Ankara dadurch die Jetons mit beiden Händen vom Spieltisch räumt, war zu erwarten. Der gewonnene Preis kann sich dabei durchaus sehen lassen: Nicht einen Flüchtling mehr, so wurde vereinbart, muß die Türkei nun unter dem Strich aufnehmen, als sie ohnehin bereits aufnimmt. Für diese Kooperation erhält Ankara von der Europäischen Union bis 2018 nicht nur drei Milliarden Euro mehr für deren kleinasiatische Flüchtlingscamps beigesteuert. Überdies benötigen türkische Bürger, sollte Ankara seinerseits bis Juni dieses Jahres die Rahmenbedingungen hierzu erfüllt haben, vom Sommer an kein Visum mehr, um nach Europa einzureisen. Und die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU sollen obendrein noch beschleunigt, der türkische Staatshaushalt mit EU-Unterstützung auf EU-Kurs gebracht werden.

Im Detail erklärt das Abkommen, daß von vergangenem Sonntag früh an sämtliche illegal nach Griechenland eingereisten Flüchtlinge in die Türkei zurückgeführt, von dieser wiederum für jeden Rückgeführten ein syrischer, in der Türkei untergekommener Flüchtling nach Europa übernommen werden soll. Dabei wurde eine provisorische Kontingentgrenze von 72.000 Flüchtlingen festgelegt, um Mißbräuche sowie Überlastungen der Erstaufnahmestellen innerhalb Europas zu vermeiden. Einzig in Griechenland gestrandete Flüchtlinge, die nachweisen können, in der Türkei ihres Lebens nicht sicher zu sein oder gar politisch verfolgt zu werden, hätten dann noch Anrecht auf sofortiges Bleiberecht in Griechenland.

Mit dieser Regelung sollte Athen eigentlich maßgeblich entlastet werden. Doch gerade das Gegenteil scheint der Fall: Denn da für jeden Flüchtling noch immer die Einzelfallprüfung gültig bleiben soll, müssen bis zum 4. April – dem Stichtag der ersten Rücksendung von Flüchtlingen in die Türkei – noch bis zu 4.860 offene Stellen an Dolmetschern und Rechtsberatern besetzt sowie weitere 280 Millionen Euro für die Noteinrichtungen auf den griechischen Inseln vorfinanziert werden.

„Wir wissen noch nicht, wie wir die Beschlüsse in der Praxis handhaben sollen“, berichtete ein griechischer Polizeivertreter am vergangenen Wochenende der Nachrichtenagentur AFP. „Wir warten vor allem dringend auf das von der EU versprochene Personal, um die Asylgesuche rasch bearbeiten zu können – die Übersetzer, Anwälte, Polizisten. Alleine schaffen wir das nicht.“

Den Zustrom illegal über die Ägäis nach Griechenland Einreisender scheint das Abkommen bislang nicht bremsen zu können. Allein auf Lesbos wurden in den ersten Nachtstunden seit Inkrafttreten des türkisch-europäischen Vertrags über 875 Flüchtlinge aufgegriffen sowie die Leichen zweier Männer geborgen, welche die gefährliche Überfahrt mit ihrem Leben bezahlen mußten. 

Auch daß sich nicht alle der 28 EU-Mitgliedsstaaten an der Aufnahme aus der Türkei stammender Flüchtlinge beteiligen würden, mußte EU-Kommissar Günther Oettinger vorab bereits eingestehen. Mit Sicherheit habe „Deutschland höhere Lasten zu tragen“, konstatierte Oettinger in einem Interview mit der Bild am Sonntag. Doch selbst dies würde „noch immer bedeuten, daß weit weniger Flüchtlinge als die 1,1 Millionen des vergangenen Jahres ankommen“, so Oettinger.

Visumbefreiung öffnet Scheunentor nach Europa 

Einzig wirklich über das Abkommen freuen darf sich bislang Davutoglu. „Die Anzahl der Flüchtlinge in der Türkei wird nicht weiter ansteigen“, zeigte sich der türkische Ministerpräsident bereits im Vorfeld siegesgewiß. Mit dem Abkommen ist die Türkei überdies de facto zum sicheren Herkunftsland geadelt worden. Eine Zugabe, welche sich Ankara sowie die herrschende AKP künftig auch innenpolitisch, speziell in der Kurden- und Menschenrechtsfrage zunutze machen wird. Und die Visumbefreiung ihrer Bürger öffnet der Türkei ab kommendem Sommer ein ganzes Scheunentor nach Europa. 

In der neunten Brüsseler Verhandlungsrunde hat Ankara allein verstanden, die Flüchtlingsproblematik für seine eigenen Ziele zu instrumentalisieren: für mehr finanzielle Unterstützung, für den Stopp des Flüchtlingsstroms ins eigene Land sowie für ein höheres politisches Gewicht im künftigen Umgang mit der Europäischen Union.