© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

In Schoßhunde verwandelt
Weltreligion und politische Ideologie: Der Islam weist einen Doppelcharakter auf
Thorsten Hinz

Seit längerem kommt in der Berichterstattung über islamistische Terroranschläge das Wort „Islam“ kaum einmal vor. Die jüngsten Selbstmordattentäter von Brüssel werden als „belgische“ oder „französische Staatsbürger“ in den europäischen Kulturkreis eingemeindet. Im Oktober 2014 nannte Bundesinnenminister Thomas de Maizière die aus Deutschland nach Nahost gereisten Kämpfer des Islamischen Staates „unsere Söhne und Töchter“. „Ein Großteil wurde hier geboren. Sie sind in unsere Schulen gegangen, in unsere Moscheen, in unsere Sportvereine. Wir tragen für deren Radikalisierung Verantwortung.“ Das war der unbeholfene Versuch, den politisch-religiösen auf einen traulichen Familienkonflikt herabzudrücken und zu vernebeln, daß dem Export islamistischer Gewalt der Import des Islam vorausging.

Der Islam wird von Politik und Medien als eine doppelt reine Idee behandelt: als Mischung aus Spiritualität, Frömmigkeit und Poesie, die erstens kein Wässerchen trüben kann und zweitens im Bedarfsfall keine weltliche Praxis besitzt. Der Bedarfsfall tritt ein, wenn seine Praxis sich als gewalttätig erweist. Sie wird dann kurzerhand zu einer un- oder antiislamischen Handlung erklärt, obgleich die Akteure ihr Handeln von ihm herleiten und durch ihn begründen.

Diesem Sprechakt wohnt ein dezisionistisches und ein beschwörendes beziehungsweise magisches Element inne. Der Dezisionismus schüchtert die Islamkritik ein und kriminalisiert sie. Die Magie aber bleibt wirkungslos. Sie kann nicht verhindern, daß die Einschläge islamistischer Gewalt unaufhaltsam näher kommen.

Die Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa müßte damit beginnen, seinen Doppelcharakter zu thematisieren: Er ist eine ehrfurchtgebietende Weltreligion und zugleich eine politische Ideologie, die den öffentlichen Raum zu durchdringen und zu beherrschen strebt. Es gehört zu den dümmlichsten aller Übungen, auf das Gewaltpotential hinzuweisen, welches in der Vergangenheit vom Christentum entfaltet wurde. Das christliche Europa hat nebenher auch den Investiturstreit – den Streit, ob dem Papst oder dem Kaiser der Vorrang im Staat gebührt  –, eine  Reformation und die Aufklärung ausgetragen. Mit dem Ergebnis, daß die westliche Kultur als einzige zu radikaler Selbstkritik fähig ist.

Entwicklungsgeschichtlich liegt der Islam um einige Jahrhunderte zurück. Es kann sein, daß er sich eines Tages auf die Überholspur begibt. Für Eu-ropa aber ist es selbstmörderisch, sich als Experimentierfeld zur Verfügung zu stellen, auf dem die Gleichzeitigkeit und Gleichberechtigung des Ungleichzeitigen erprobt wird. Der sogenannte Euro-Islam ist nichts als eine Schimäre. In allen westeuropäischen Ländern zeigt sich, daß der Islam, sofern er eine gewisse Stärke erreicht hat, seine Positionen keineswegs der Selbstkritik unterzieht, sondern ihnen öffentliche, gesellschaftliche und politische Geltung zu verschaffen sucht, was sowohl lebensweltlich als auch politisch für antagonistische Konflikte sorgt. 

Auf diesen Antagonismus waren die Europäer nicht vorbereitet. Brüssel ist auch deswegen zur Hochburg der Islamisten in Europa geworden, weil 1967 der belgische König Baudouin mit seinem saudi-arabischen Kollegen eine Abmachung getroffen hatte: Belgien erhielt billiges Öl gegen die Erlaubnis für die Saudis, in Brüssel und ganz Belgien zu missionieren. Ein materieller Vorteil wurde gegen eine ideelle Konzession eingetauscht. Baudouin war ein strenggläubiger Katholik, der gewiß keine Islamisierung im Sinn hatte und sie sich auch nicht vorstellen konnte. Der Westen ging von den Maßgaben einer säkularen Gesellschaft aus, in der die Religion ins Private verwiesen ist und stetig an Einfluß verliert. Die energetische Potenz des Islam lag außerhalb des europäischen Denkhorizonts. Heute spricht Belgiens Jugendminister von „einer fatalen politischen Weichenstellung (...), zu deren Langzeitfolgen die zunehmende Radikalisierung marokkanischer und algerischer Einwanderer in Belgien gehört“.

Das weltweit bestimmende Ringen mit dem Ostblock hatte den latenten Konflikt mit dem Islam jahrzehntelang verdeckt oder ihn als sekundär erscheinen lassen. Rückblickend war der Kommunismus der leichtere Gegner. Denn der Marxismus-Leninismus war ein mißratenes und trotzdem legitimes Kind der europäischen Geisteswelt, und die Auseinandersetzung wurde beiderseits mit säkularen Waffen ausgetragen.

Die Herausforderung durch den erstarkten Islam besitzt eine andere Qualität, weil er aus Glaubensquellen schöpft und ihm Mittel zur Verfügung stehen, die der Westen nicht einmal mehr für möglich gehalten hat. Seine Wortmagie ist zu schwach, die Energien des Islam in die Deutungsmuster des westlichen Liberalismus zu zwingen, weil er keine physische und moralische Überlegenheit mehr glaubhaft machen kann.

Im Gegenteil, weil der Islam sich auch als soziale Bewegung der Dritten Welt inszeniert, lassen sich die postkolonialen Europäer von ihm moralisch erpressen. Die Selbstkritik ist in Schuldversessenheit umgeschlagen, die ihr historisches Bewußtsein zerstört und den Blick auf die Gegenwart verzerrt. Die Deutschen bilden mit ihrem zivilreligiösen Schuldkult die europäische Avantgarde.

Frantz Fanon, der auf Martinique geborene Vordenker des Antikolonialismus, hat in dem 1961 erschienenen Klassiker „Die Verdammten dieser Erde“ behauptet, Europa sei „buchstäblich das Werk der Dritten Welt“ und sein Reichtum entstamme in direkter Linie dem Diebstahl an den kolonisierten Völkern. So wie die Europäer sich 1945 einig gewesen seien: „Deutschland muß zahlen!“, stünde jetzt Europa gegenüber der Dritten Welt in der Pflicht zur Reparation. Er forderte die Europäer auf, sich als Verbündete der Dritten Welt zu verstehen und Abschied von den „weißen Werten“ zu nehmen. Diese verdankten ihre Überlegenheit allein dem Einsatz von Gewalt, weshalb es legitim sei, sie umzukehren. Zu Lebzeiten Fanons war Europa für die Dritte Welt „ein Paradies in greifbarer Nähe, bewacht von furchteinflößenden Bluthunden“. Als Paradies erscheint es ihnen nach wie vor, nur die Blut- haben sich in schwanzwedelnde Schoßhunde verwandelt. 

Wenn Diskutanten den islamistischen Terror gegen deutsche Waffenexporte aufrechnen, bricht das Publikum über soviel Einfalt in erleichterten Beifall aus. Moralische Schwachheit und politische Infantilität gehen Hand in Hand. Unter diesen Voraussetzungen ist die sachgerechte Auseinandersetzung mit der politisch-ideologischen Qualität des Islam unmöglich. Für die meisten Diskutanten sind die türkische Eroberung von Byzanz 1453 oder der Dschihad nur Begebenheiten und Begriffe aus Tausendundeine Nacht. Sie erfassen nicht die Brisanz, die in der Feststellung eines türkischstämmigen Unternehmers und SPD-Mitglieds liegt: „Im Jahr 2100 wird es in Deutschland 35 Millionen Türken geben. Die Einwohnerzahl der Deutschen wird dann bei ungefähr 20 Millionen liegen. Das, was Kamuni Sultan Süleyman 1529 mit der Belagerung Wiens begonnen hat, werden wir über die Einwohner, mit unseren kräftigen Männern und gesunden Frauen verwirklichen.“ Wer vom „demographischen Dschihad“ zu sprechen wagt, muß fürchten, des biologistischen Gedankenguts, der NS-Ideologie und schließlich der Volksverhetzung bezichtigt zu werden.

Die Angst hat noch eine andere, handfeste Quelle. Man vergleiche einmal das Zartgefühl und die Vorsicht, die Politiker, Journalisten und vorgebliche Experten in bezug auf den Islam und seine Vertreter walten lassen, mit der aggressiven Wortwahl, Intonation und Körpersprache, die sie gegenüber AfD-Vertretern, Islamkritikern und nonkonformen Autoren an den Tag legen. Der kompensatorische Zusammenhang ist offensichtlich, und die Behauptung, man bekunde damit seinen Respekt gegenüber einer Minderheitenreligion, fällt durch den Verzicht auf Selbstachtung und Wahrheit ins sich zusammen. Was sich hier äußert, sind Furcht und Unterwürfigkeit.

Dafür bedarf es nicht einmal des IS und des Terrorismus, obwohl deren einschüchternder Effekt mit jedem Anschlag zunimmt. Es genügt eine ganz alltägliche, physische Präsenz, ablesbar an der quantitativen und qualitativen Zusammensetzung jener Alterskohorten, welche mittelfristig die Zukunft des Landes bestimmen werden. Sogar die staatlich gehätschelte, gewaltbereite Antifa geht der Auseinandersetzung mit Salafisten und Islamisten aus dem Wege. Auch sie hat ein Gespür für aktuelle und künftige Kräfteverhältnisse und zieht daraus dieselben Schlüsse wie die etablierten Politiker, Journalisten und Experten, die die Entwicklung propagiert, geduldet, verharmlost und dadurch mit betrieben haben. Zu einem radikalen Kurswechsel werden sie kaum fähig sein. Sie stünden dann vor derselben Frage wie der Untersuchungsrichter in Camus’ „Fremden“, der den Titelhelden erregt fragt: „Wollen Sie, daß mein Leben keinen Sinn hat?“

Ehe an eine Rückeroberung der geistigen Freiheit gegenüber dem Islam auch nur zu denken ist, müßte eine Evaluierung des politisch-ideologischen Überbaus und seiner Bestände stattfinden, die wesentlich tiefer geht als jene, die nach 1989 in der Ex-DDR erfolgte.