© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Den Mächtigen auf die Finger schauen
Erkundung: So ticken die heimatbewußten, störrig-stolzen Sachsen
Wolfgang Kaufmann

Während der große Denker Johann Gottfried Herder die sächsische Residenzstadt Dresden als „Florenz des Nordens“ feierte, sprach Friedrich Schiller 1790 enttäuscht von einer „Wüste der Geister“. Ähnlich drastisch fiel kurz darauf das Verdikt des Reiseschriftstellers Georg Friedrich Rebmann aus: „Freimütigkeit ist hier nicht zu Hause, und bezüglich der politischen und religiösen Denkungsart steht der Sachse (…) wenigstens um ein halbes Jahrhundert zurück.“ Später wiederum spöttelte dann Kurt Tucholsky: „Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner.“ Und in der Gegenwart verhält es sich auch kaum besser: „Wenn Sie mal raus aus Deutschland wollen, fahren Sie nach Sachsen“, riet das Satiremagazin Titanic vor einiger Zeit. Dazu paßt nahtlos das momentane, beileibe nicht mehr nur humoristisch gemeinte Fabulieren von den angeblichen Vorteilen eines „Säxits“.

Lange im Schatten der Militärmacht Preußen

Die Stigmatisierung und Herabwürdigung der Sachsen hat also durchaus Tradition – sie ist weit mehr als nur die Konsequenz von Walter Ulbrichts tremoliertem „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ oder der Existenz von Pegida. Dabei weist der Menschenschlag im Südosten Mitteldeutschlands tatsächlich ein paar spezielle Eigenheiten auf: Gegenüber Fremden verhält er sich zunächst etwas distanziert und vorsichtig, dazu kommen gelegentlich Trotz und Störrigkeit sowie diese besondere Art von übermütigem Stolz, die schon mal ins Lächerlich-Dünkelhafte umschlagen kann, wie in der Twitter-Botschaft eines Dresdner CDU-Landtagsabgeordneten: „Sachse ist das Höchste, was ein Mensch auf Erden werden kann.“

Hiermit versucht der Sachse freilich aber zumeist nur die Kränkungen zu kompensieren, die seinem „Völkchen“, das derzeit rund vier Millionen Menschen umfaßt, im Laufe der Geschichte zugefügt worden sind. So stand Sachsen lange im Schatten der benachbarten Militärmacht Preußen, welche schließlich 1815 infolge der Beschlüsse des Wiener Kongresses zwei Drittel des sächsischen Territoriums schluckte – zuvor wurde das Land von Napoleon ausgeplündert und zur Kollaboration genötigt.

Anderthalb Jahrhunderte darauf mußten sich die Sachsen im „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR sagen lassen, sie seien vom Westfernsehen unbeleckte, politisch ahnungslose Hinterwäldler. Und nach der Wende fielen dann die Liquidatoren der Treuhand ins Land ein, die die vorhandenen Staatsbetriebe ohne viel Federlesens verschacherten oder „abwickelten“, während fast alle lukrativen Posten in Verwaltung, Justiz und Politik an West-importe von oft nur mangelhafter Befähigung gingen.

Abwertende Äußerungen resultieren aus Neid

Viele abwertende Äußerungen über die Sachsen resultierten jedoch gar nicht aus deren tatsächlichen oder angedichteten Eigentümlichkeiten, sondern schlicht und einfach aus Neid. Immerhin lebten die Verlästerten lange in ziemlichem Wohlstand, was unter anderem an den reichen Silbervorkommen des Erzgebirges sowie dem sächsischen Erfindertalent lag, das der Welt beispielsweise folgende, kommerziell gut zu verwertende und heute noch unverzichtbare Dinge bescherte: Armbanduhr, BH, Feinwaschmittel, Kaffeefilter, mechanischer Webstuhl, Mineralwasser, Porzellan, Thermoskanne, Waschmaschine und Zahncreme.

Zudem erschien in Leipzig am 1. Juli 1650 der Prototyp aller Tageszeitungen. Überhaupt: Leipzig! Hier traf man sich ab dem 12. Jahrhundert zur zeitweise größten Messe der Welt oder studierte an der zweitältesten Universität Deutschlands; erinnert sei zudem an die 400 Buchverlage, die ihren Sitz an der Pleiße hatten. Nichts also mit geistiger Enge und provinzieller Beschränktheit!

Ebensowenig wurde Sachsen durch Abschottung geprägt, wie es neuerdings immer wieder heißt. Einwanderer fanden hier in der Vergangenheit durchaus Akzeptanz und ein gutes Auskommen, wenn sie denn den nötigen Leistungswillen und die Bereitschaft zur Anpassung an die vorgefundenen Gegebenheiten mitbrachten, egal ob es sich nun um aus dem Habsburgerreich in das Kurfürstentum einströmende protestantische Glaubensflüchtlinge oder vietnamesische Vertragsarbeiter handelte, die nach der „Wende“ einfach im Lande blieben und etwas aus ihrem Leben machten.

Ein weiterer Grund für den Neid auf die Sachsen waren die langjährig stabilen innenpolitischen Verhältnisse in deren Heimat. Die Dynastie der Wettiner herrschte hier rund 800 Jahre in Permanenz, weswegen es zu keinen nennenswerten Unruhen oder gar Umstürzen kam – wenn die sächsische Bevölkerung litt, dann vorrangig unter fremden Mächten wie den Schweden zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges oder den Preußen und Franzosen, die zuerst Kriege anzettelten und dann als Besatzer auftraten.

Andererseits waren die Sachsen aber trotz aller Loyalität gegenüber ihrem Herrscherhaus kein unkritisches, obrigkeitshöriges Volk: Sie schauten den Regierenden sehr genau auf die Finger, was nicht zuletzt dazu führte, daß der späterhin zur schillerndsten sächsischen Persönlichkeit überhaupt stilisierte Kurfürst August der Starke lange Zeit eher als zwielichtiger Liederjan und Verschwender galt. Diesen sächsischen Wesenszug bekam auch die vergreiste Honecker-Riege im fernen Berlin zu spüren. Schließlich begann die „Wende“ nirgendwo anders als in den Städten Leipzig, Dresden und Plauen, wo die ersten und letztendlich entscheidenden Demonstrationen gegen das SED-Regime stattfanden – und zwar vielfach bereits unter Mitführung der in der DDR höchst verpönten grün-weißen Sachsenfahne.

Deshalb kann kaum verwundern, daß es nach der Wiedervereinigung zu einer ausgeprägten Rückbesinnung auf die sächsischen Traditionen kam, was schon lange vor dem Entstehen von Pegida und den Spontanprotesten gegen das oktroyierte Asylchaos Merkelscher Machart den Zorn der Linken erregte. Denn der Stolz der Sachsen auf ihr Land kommt ja quasi als Ableger des deutschen Nationalstolzes daher, der die geistigen Erben von Marx, Engels und Lenin regelmäßig in Rage bringt. Dabei gehört die Heimatliebe zu den wichtigsten Ingredienzien des „sozialen Kitts“, der eine Gesellschaft überhaupt erst zusammenhält.