© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Die Zeitschriftenauslagen in der Bahnhofsbuchhandlung quellen förmlich über, doch vielfach herrscht Gleichförmigkeit. Vor allem ein Trend scheint ungebrochen, der sich in zahlreichen Magazinen niederschlägt: die Sehnsucht nach Naturnähe, dem einfachen, ursprünglichen Leben in einer vermeintlich heilen Welt. Die dazu einschlägigen Titel heißen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Landlust, Landidee, Landzauber, Landkind, Land & Berge, Land & Leute, Landgenuß, Liebes Land, LandSpiegel, Mein schönes Land. Wer diese Zeitschriften wohl alle kauft? Nun, in jedem Fall sind es viele, sehr viele sogar. Spitzenreiter mit großem Abstand ist noch immer Landlust. Das Heft verkaufte sich im vierten Quartal vorigen Jahres 1.047.668mal. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Mein schönes Land mit 356.207 und Landidee mit 262.384 Exemplaren. 

Wie viele dieser Zeitschriftenkäufer wohl mit dem Namen Henry David Thoreau etwas anzufangen wissen? Vielleicht gar ein Buch von ihm gelesen haben? Der US-Schriftsteller gilt als einer der Ahnherren anschaulicher Naturschilderungen. Zwei Jahre lang lebte er in einer selbstgebauten Blockhütte am See in den Wäldern von Massachusetts. In seinem 1854 erschienenen Klassiker „Walden oder Leben in den Wäldern“ schreibt er dazu: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte. (…) Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

Im Verlag Matthes & Seitz ist jetzt der erste Band von Thoreaus Tagebuch erschienen (326 Seiten, gebunden, 26,90 Euro). Übersetzt und mit einer knappen editorischen Notiz versehen von Rainer G. Schmidt, umfaßt es die Jahre von 1837 bis 1842; die Gesamtausgabe des Tagebuchwerks ist auf zwölf Bände angelegt. Es bietet neben Naturbeobachtungen auch Reflexionen über Staat und Gesellschaft. Einer meiner Lieblingseinträge lautet: „Der Paradiesvogel muß (…) ständig gegen den Wind fliegen (…). Er kann den Fittich anmutiger und ausdauernder schwingen, je fühlbarer die Luft ist und je mehr Widerstand sie bietet. Der große Mann bietet dem Sturm die Stirn und steuert in das Auge des Sturms – so daß seine Größe ausgeweitet wird und ihn umschwebt, wie das Gefieder des Paradiesvogels.“