© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Der Freiheitskampf der Ukrainer und unsere Rußlandversteher
Hinfahren! Anschauen!
Christoph Brumme

Vor zwei Jahren hat sich Rußland die Krim einverleibt. Den Ukrainern wurde damit ihr schönstes Sanatorium geklaut, ihre Goldene Riviera. Doch der Schmerz über den vorläufigen Verlust schützt sie zumindest vor politischer Schizophrenie.

Auf meinen jahrelangen Fahrradtouren durch die Ukraine und durch Rußland habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, daß es einige entscheidende Unterschiede zwischen den Bevölkerungen beider Länder gibt. Zunächst gibt es in Rußland mehr großmäulige Männer. Sie möchten gern wie Atlas die Erdkugel und das Schicksal der Menschheit auf den Schultern tragen. Ihr Land soll das stärkste der Welt sein, mindestens so stark wie die USA, obwohl die Wirtschaftskraft eher zu Vergleichen mit Italien oder Spanien mahnt.

Manchmal heißt es, Rußland könne Europa vor islamistischem Terror schützen, obwohl es selbst mit eben diesem Terror große Probleme hat, siehe Dagestan und Tschetschenien. Kneipensprüche wie der, nur in Rußland sei noch reines „Ariertum“ anzutreffen, sind ebenfalls ziemlich populär. Man will den Kampf „gegen asiatische Horden“ führen und natürlich gewinnen. Und daß in Rom der Antichrist regiere, behauptete vor einigen Jahren schon die ehemalige Zeitung des kommunistischen Jugendverbandes Komzomolskaja Prawda. Wenn im russischen Fernsehen über weltweit übliche Penisgrößen diskutiert wird (Asiaten haben kleinere als Russen, Afrikaner die größten), so fällt das in die Rubrik Aufklärung.

Bekanntlich ist es eine alte russische Idee, die materielle Unterlegenheit gegen­über Westeuropa durch moralische Hochnäsigkeit auszugleichen, ob von Dostojewskij oder Lenin vertreten. Neuerdings gilt als wissenschaftlich erwiesen, daß die russische Zivilisation der europäischen überlegen ist, wie früher die kommunistische über die kapitalistische.

Weil sie angeblich freier von Egoismus ist, obwohl sie natürlich auch ihre Interessen durchsetzen will. Und der messianische Anspruch führte historisch betrachtet meistens zu jämmerlichen Ergebnissen. 

Ukrainer wollen niemanden erziehen und unterwerfen, keine fremden Territorien erobern. Sie neigen dazu, Autoritäten zu verlachen und die Anarchie als Preis für die Freiheit von staatlicher Gängelei zu akzeptieren. Der Freiheitsgedanke ist für die ukrainische Kultur der wichtigste, gespeist oft durch die kosakischen Traditionen. Wie es im Westen das Klischee vom Indianer als Freiheitskämpfer gibt, so in der Ukraine das vom gerechten Kosaken, dem freien, edlen Bürger. Besonders im Nordosten und in der zentralen Ukraine sind die Erinnerungen an die von Stalin verordnete Hungersnot ungemein präsent.

In Rußland hingegen wird autoritäres Regieren oft verteidigt. „Wir brauchen einen Zaren, Rußland muß mit der Knute regiert werden!“, das brüllten mir am Wolgaufer selbst die ersten Hippies und Rock’n’Roller in die Ohren. In der Ukraine habe ich meines Wissens auch nach dreißigtausend dort geradelten Kilo­metern solch einen Gedanken noch nie gehört.

Fast alle meine Bekannten kritisieren „das System“ in Deutschland; manche meinen, es bekämpfen zu müssen. Aus Olegs Sicht leben wir in der besten aller möglichen Welten. In Gefängnissen soll man zwischen sieben Sorten Wurst und Käse auswählen können!

Aus ukrainischer Sicht verhalten sich auch viele Deutsche schizophren. Das wurde mir klar, als mein Freund Oleg aus Poltawa zum ersten Mal nach Deutschland kam. Fast alle meine Freunde und Bekannten kritisierten in Gesprächen mit ihm „das System“ in Deutschland, das wirtschaftliche und das politische. Manche meinten, es aktiv bekämpfen zu müssen, auf Demonstrationen oder mit dem Komponieren von Musik, obwohl sie aus Olegs Sicht in der besten aller möglichen Welten leben. In Gefängnissen soll man zwischen sieben Sorten Wurst und sieben Sorten Käse auswählen können!

Als ich ihm erzählte, daß laut einer Umfrage nur zwanzig Prozent der Deutschen bereit wären, ihr Land gegen eine militärische Aggression zu verteidigen, meinte er, die anderen glaubten, sie könnten dann Urlaub in Thailand machen. Und wenn auf sie geschossen wird, werfen sie mit Kuchenkrümeln.

Oleg meinte, egal, welche dumme Regierung ihn betrüge, die Ukraine sei immer noch sein Land, seine Heimat! Er könne sie doch nicht hassen, nur weil die Wirtschaft kapitalistisch oder was auch immer sei. Er kann auch nicht den Tod seiner Mitbürger und Freunde gleichgültig hinnehmen, weil Rußlands geostrategische Interessen das verlangten. Und bevor er auf die USA schimpft, wünscht er sich lieber eine US-amerikanische Kamera.

Seltsame deutsche Öffentlichkeit, in der jedes Fußballspiel der Bundes­liga genauer untersucht wird als Kriege und Revolutionen in der Nachbarschaft. „Die gegen Rußland gerichtete US-Politik impliziert zugleich eine antideutsche und antieuropäische Stoßrichtung“, behauptet beispielsweise Thorsten Hinz (JF 13/14). Sicherlich versteht er kein Russisch, sonst könnte er russische TV-Sendungen und Parlamentsreden sehen, in denen die Bombardierung Berlins und anderer europäischer Städte durch russisches Militär angedroht wird. Und diese erpresserische Politik soll „Europa eine der wenigen Chancen (bieten), die amerikanische Übermacht auszubalancieren“?

Während in Rußland ständig vom Westen als Feind geredet wird, den es notfalls auch mit Atomwaffen zu vernichten gelte, betonen westliche Politiker, man wolle keinen (neuen Kalten) Krieg mit Rußland. Niemand hat Rußland militärisch gedroht. Doch die sanftere westliche Politik wird als aggressiv bezeichnet, die kriegerische russische als verständlich und mit Sonderinteressen erklärt.

Die These von der „Einkreisung Rußlands“ durch die Nato als angebliches Ziel US-amerikanischer Politik verkennt Tausende Tatsachen, wie beispielsweise die der privilegierten Partnerschaft mit Rußland (Nato-Rußland-Rat, G8). Von der Ukraine hingegen wurde erwartet, daß sie ihre Atomwaffen abgibt. Doch das Versprechen der USA, Großbritanniens und Rußlands, als Gegenleistung die territoriale Integrität des Landes zu garantieren, war im entscheidenden Moment nichts wert. In Kiew witzelte man lange Zeit, es gebe zwei russische Botschaften, in einer werde deutsch gesprochen. Übrigens wehte auch unter Wiktor Janukowytsch die Flagge der EU vor dem Kiewer Außenministerium, wurde der Europatag als landesweites Kulturfest gefeiert und lautete eine Losung der Partei der Regionen während der Maidan-Revolution: „Europa ja, Unordnung nein!“

Meine ukrainischen Freunde verweisen gern auf einen Unterschied, wenn ich ihnen von der im Westen so populären Unterstellung erzähle, die USA hätten den „Umsturz in der Ukraine forciert“. Sie reagieren nicht beleidigt, obwohl man ihnen den eigenen Willen abspricht und ihnen unterstellt, sie hätten für ein paar Dollar und die Interessen einer fremden Macht ihr Leben riskiert. Und obwohl sie natürlich viel besser als die Zeugen des Sofas über die Ereignisse in ihrem Land informiert sind. Sie fragen nur: Die USA unterstützen Südkorea, Rußland unterstützt Nordkorea, was ist ehrenwerter? Stammtischniveau, schon klar, aber nicht mehr Stammtisch als die Aussage, die US-Politik „impliziert zugleich eine antideutsche und antieuropäische Stoßrichtung“. Wenigstens hat in den letzten Jahrzehnten kein Politiker aus den USA mit der Bombardierung deutscher Städte gedroht.

Zu den Symptomen der politischen Schizophrenie gehört auch, „geopolitische Analysen“ zu fordern, ohne die dafür notwendigen Erfahrungen vorweisen zu können. In einem Theaterstück wäre ein Reporter, der die Lage im Land X beurteilt, ohne je in diesem Land gewesen zu sein und die dortigen Sprachen zu verstehen, eine lächerliche Figur. In Afrika ist es heiß, der Ukraine droht die Spaltung, da werden sich Russen und Ukrainer bekriegen, schon klar, wir müssen mal wieder Fieber messen.

Im Westen hat man offenbar keine Vorstellung davon, wie lächerlich sich Rußland seit zwei Jahren den Ukrainern darstellt, die schließlich keine Dolmetscher brauchen, um Propagandalügen und auch die feinsten Anspielungen zu verstehen.

Die Ukrainer spielen euch einen Streich und entscheiden selbst über ihr Schicksal, ihr Möchtegern-Großstrategen! Sie entfachen keinen Bürgerkrieg, nur weil in Kiew auf den Straßen mehrheitlich russisch gesprochen wird (und die gleichen Menschen abends in ihren Familien ukrainisch sprechen). Sie haben nämlich ziemlich konkrete Vorstellungen von ihrer Würde. Sie denken nicht in Machtkategorien und folgen keinen ideologischen Reflexen, sondern stellen sich einfache Fragen: Wo werde ich weniger betrogen, wo arbeitet die Polizei ehrlicher, wo ist das Gesundheitssystem humaner?

Wo sind die Straßen und Autos besser, wo ist das Leben interessanter? In der einen Hemisphäre werden beinahe täglich sensationelle Entdeckungen gemacht und verblüffende Technologien entwickelt, ob Gravitationswellen oder selbstfahrende Autos. In der anderen Hemisphäre bezeichnet der Präsident das Internet als eine Erfindung der CIA, und die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen wird mit drei Jahren Lagerhaft bestraft.

Wieso braucht Rußland „die Kontrolle über das Schwarze Meer“ (Hinz, JF 13/14)? Und warum kann es sich „den Zugang zum Mittelmeer“ nicht mit friedlichen Mitteln sichern, wie im Kapitalismus üblich durch die Bezahlung von Zöllen und Transitgebühren? Das wäre allemal billiger und deshalb viel eher im Interesse Rußlands gewesen als der heimtückische, offiziell nicht erklärte Krieg gegen die kulturell und geschichtlich so nahen Ukrainer.

Im Westen hat man offenbar keine Vorstellung davon, wie lächerlich sich Rußland seit zwei Jahren den Ukrainern darstellt, die schließlich keine Dolmetscher brauchen, um auch die feinsten Anspielungen zu verstehen. Die russischen Propagandalügen können sie leicht durchschauen, etwa die von der angeblichen Unterdrückung der russischen Sprache, welche bis zum heutigen Tag in der ukrainischen Armee und selbst in den nationalistischen Freiwilligenverbänden Befehlssprache ist.

Tatsächlich hat erst die Politik Putins die Ukrainer „in die Hände der Nato getrieben“ – ein schönes Beispiel für das Versagen einer geopolitischen Analyse.

Wer im Geschichtsunterricht aufgepaßt hat, wird sich erinnern, daß es einige wesentliche Unterschiede zwischen dem Deutschland von 1932 und dem von 1934 gab. Das Leben war nicht mehr so fröhlich. Und bald sollte es noch trauriger werden. Zwischen dem Rußland von 2013 und dem von heute gibt es auch einige wesentliche Unterschiede. Früher hat man französischen Käse genossen, heute verbrennt man ihn. Heute wird im Fernsehen jeden Tag mit dem Schreckgespenst eines apokalyptischen Krieges gegen den Westen gedroht.

Die Maidan-Revolution und die weitere Entwicklung in der Ukraine ist auch ein Symbol für die Tragik Europas, dessen geistige, kulturelle und geographische Umrisse sich stark voneinander unterscheiden. Fünfundvierzig Millionen Ukrainer werden nur widerwillig als Subjekt der Geschichte wahrgenommen. Der geographische Mittelpunkt Europas liegt bekanntlich in der Ukraine. Die kulturelle östliche Grenze verläuft aus chinesischer Sicht in Wladiwostok am Pazifischen Ozean – Architektur, Religion und Sprache gelten als europäisch. Der Geist Europas sollte eigentlich in der Schlußakte von Helsinki festgeschrieben sein. Denn Prinzipien wie die Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten, des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung, darf man durchaus als Fortschritt bezeichnen.






Christoph Brumme, Jahrgang 1962, absolvierte eine Lehre als Eisenbahner, arbeitete am Theater Eisleben und studierte Philosophie. Seit 1991 lebt er als freiberuflicher Schriftsteller und Essayist in Berlin. Sechsmal fuhr er mit dem Fahrrad von Berlin an die Wolga und zurück. Zahlreiche Veröffentlichungen von Reportagen, Kommentaren und literaturwissenschaftlichen Essays in der überregionalen deutschen und ausländischen Presse.

Foto: Demonstrant mit in den ukrainischen Nationalfarben bemaltem Gesicht auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz: Ukrainer wollen niemanden erziehen und unterwerfen, auch keine fremden Territorien erobern. Sie neigen dazu, Autoritäten zu verlachen und die Anarchie als Preis für die Freiheit von staatlicher Gängelei zu akzeptieren.