© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Tödliches Sozialexperiment für den neuen Menschen
Werner Gille war Zeuge der Umbrüche der chinesischen Kulturrevolution / Nach knapp fünfzig Jahren liegen nun seine Eindrücke in Buchform vor
Peter Kuntze

Daß ein 86jähriger Deutscher seine Erlebnisse während der chinesischen Kulturrevolution nach fast fünfzig Jahren zu Papier bringt, mag man bewundern; daß sich ein Verlag findet, der diese Erinnerungen aus dem Jahr 1967 jetzt als „Augenzeugenbericht“ veröffentlicht, darf man mutig nennen. Die Frage, warum all dies nicht schon Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre geschah, lassen Autor und Verlag leider unbeantwortet. Dennoch: Die Lektüre lohnt sich. 

Dem Historiker und Journalisten Werner Gille ist, gestützt auf seine damaligen Tagebuchnotizen, faszinierenden als auch erschreckenden kaleidoskopischen Bildern, ein eindrucksvolles Porträt jener Bewegung gelungen, die 1966 begann und mit dem Tod Mao Tse-tungs zehn Jahre später ihr Ende fand. 

Gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte Gille 1967 als einer der ganz wenigen westlichen Ausländer ein Visum erhalten. Unter der fingierten Berufsbezeichnung „Papierkaufmann“ durfte er sich in Hongkong einer dreiköpfigen Gruppe anschließen, die als „westdeutsche Delegation“, begleitet von Dolmetschern und staatlichen „Betreuern“, vier Wochen lang durch die Volksrepublik reiste. Daß unser Autor auch einige Male in Papierfabriken geführt und wegen fachlicher Unwissenheit Staunen erregte, blieb glücklicherweise folgenlos.

Maos Ideen mündeten in eine Hungerkatastrophe

Im Westen kursierten damals die wildesten Gerüchte über das Geschehen in jenem fernen Land, das von den USA und den meisten ihrer Verbündeten seit 1949, dem Jahr der Proklamation der Volksrepublik durch Mao, wie ein Paria geächtet und isoliert wurde. Mit Unverständnis und dem Schauer des Entsetzens nahm man zur Kenntnis, daß 750 Millionen Chinesen, als „blaue Ameisen“ verspottet, damit begannen, in kollektiver Anstrengung eine neue Gesellschaft aufzubauen. Gille, zum Vorteil des Lesers mehr Augenmensch als politischer Analytiker, begegnete dem neuen Reich der roten Mandarine mit Neugier und dem einfachen Volk mit Sympathie. Zwiespältige Gefühle hegte er jedoch hinsichtlich der Methoden, mit denen Chinas Kommunisten ihr Aufbauwerk vorantrieben. 

Auch im Westen war zu jener Zeit längst bekannt, daß der von Mao initiierte „Große Sprung nach vorn“ (1958 bis 1961), der das Land dem Kommunismus näher bringen sollte, gescheitert war. Da die marxistische Utopie im „Absterben des Staates“ gipfelt, waren damals Volkskommunen gegründet worden, die für Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung, Schulen oder Kliniken zuständig sein und sich selbst verwalten sollten. In der Endstufe, so der Plan, würde ganz China eines Tages Kommune sein, in der es keine Unterschiede zwischen Stadt und Land, Arbeitern und Bauern sowie zwischen geistiger und körperlicher Arbeit mehr geben würde. Doch das Experiment endete in einer Katastrophe mit vielen Millionen Hungertoten.

Gille wurde 1967 Zeuge, wie die Ultralinken ihr Sozialexperiment ein zweites Mal wagten. Mao, in der Partei mittlerweile weitgehend kaltgestellt, rief die Jugend auf, gegen die „kapitalistischen Machthaber“ in KP, Regierung, Betrieben und Universitäten zu rebellieren und den Klassenkampf energisch fortzusetzen. Durch die „Große Proletarische Kulturrevolution“ solle allen Menschen ein neues Bewußtsein eingeflößt werden. Jeder, ob Arbeiter, Bauer oder Intellektueller, müsse uneigennützig dem Volk dienen. Vor allem aber, so Mao, komme es darauf an, die „vier Alten“ zu bekämpfen – die alten Ideen, die alte Kultur sowie die alten Sitten und Gebräuche. In Kindergärten, Schulen und Universitäten, in Betrieben und auf dem Land, in Kinos und auf der Opernbühne konnte Gille beobachten, wie jener „rote Sturm“, dem erneut Hunderttausende zum Opfer fielen, in Szene gesetzt wurde. Wer sich den Roten Garden widersetzte, wurde mit spitzem Schandhut durch die Gassen getrieben, zur Umerziehung aufs Land geschickt oder gleich hingerichtet. Damals fragte sich Gille: „Was wird wohl von der Kulturrevolution bleiben?“ Heute wissen wir die Antwort: nichts. Sie war der –wohl nur vorerst – letzte Versuch, einen „neuen Menschen“ zu schaffen.






Peter Kuntze war Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda 2014).

Werner Gille: Im Windschatten des roten Sturms. Die chinesische Kulturrevolution – ein Augenzeugenbericht. Herbig Verlag, München 2016, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro