© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Kritik ist nicht erwünscht
Beginn der Serie „Erdogans Türkei“: Vom Fußballtalent zum Alleinherrscher
Marc Zoellner

Ganz wohl in seiner Haut fühlte sich Finnlands Präsident Sauli Niinistö nicht, als er von seinem türkischen Amtskollegen eingeladen war, dessen neuen Präsidentenpalast zu besichtigen. „Ich habe Angst, mich dort zu verlaufen“, witzelte der Nordeuropäer noch kurz vor Antritt seiner Reise nach Kleinasien. „Vielleicht sollte ich mir einen Kompaß mitnehmen.“

Trotz alledem empfinde er die Einladung Erdogans nach Ankara natürlich als große Ehre, so Niinistö. Was sie auch war: Immerhin durften mit Papst Franziskus, Wladimir Putin sowie dem turkmenischen und dem ungarischen Präsidenten lediglich erst vier Staatsoberhäupter die heiligen Hallen betreten. Jenen seldschukischem Prunkbau von vier Hektar reiner Gebäudefläche, dessen Konstruktion die horrenden Kosten von 500 Millionen Euro nur knapp unterschritt. „An solche Paläste“, gestand Niinistö anerkennend zu, „sind wir in Finnland nicht gewöhnt. Wir waren schon immer ein armes Land.“

Hatte sich diese kuriose Anekdote schon vor einigen Monaten ereignet, erzählt sie doch noch immer recht eindeutig vom Wesen des Recep Tayyip Erdogan. Sie gewährt Einblicke in die zwiespältige Denkhaltung des starken Mannes am Bosporus, dessen konservative Predigten von islamischer Tugend, von selbstloser Aufopferung und beinahe schon asketischer Lebensführung im scharfen Gegensatz stehen zur eigenen Darbietung des Präsidenten, seinem exzentrischen Auftreten und vor allem auch der Gigantomanie seiner Projekte.

Kontrahenten werden systematisch kaltgestellt

Die Motivation hinter dem Schaffen des türkischen Staatsoberhaupts, der nicht nur sein eigenes Volk in dessen Meinung über ihn entzweit, ist dabei nur schwer zu erfassen. Zweifelsohne spielt Erdogans Herkunft in seinem Handeln eine gewichtige Rolle: sein rasanter Aufstieg vom in verhältnismäßiger Armut geborenen fünften Kind eines Küstenwächters, das auf den Straßen des traditionsreichen, seinerzeit jedoch stark verfallenen Istanbuler Hafenviertels von Kas?mpasa aufwuchs und als Jugendlicher den Wunsch hegte, eines Tages als Profifußballer sein Geld zu verdienen. Lediglich auf Druck seines Vaters beschloß der junge Erdogan, Betriebswirtschaft zu studieren.

Hochgesteckt sind demzufolge auch seine Ambitionen im wirtschaftlichen Bereich. „Die Türkei ist eine aufstrebende Kraft dank seiner jungen und hochqualifizierten Erwerbsbevölkerung“, erklärte der türkische Präsident vergangenen Herbst auf einer Wirtschaftskonferenz in Belgien. „Wir sind die siebzehntgrößte Wirtschaft der Welt. Im Bereich der Landwirtschaft sind wir Nummer eins in Europa und Nummer sieben weltweit. Und im Rahmen unserer Vision 2023 streben wir an, eines der Top-10-Länder der Welt im Verteidigungsbereich zu werden.“

Bis 2023, verspricht Erdogan, soll noch einmal ein großer Sprung nach vorn erfolgen. Mit der Inbetriebnahme des Istanbul New Airport, des bis dahin größten Flughafens der Welt, im Februar 2018 sowie dem Ausbau der Handelshäfen an der türkischen Mittelmeerküste erhofft Ankara sich bereits 2023 Exporteinnahmen von atemberaubenden 500 Milliarden US-Dollar. Die Türkei stünde damit noch vor Rußland weltweit auf Platz neun der Außenhandelsskala.

Nicht nur aufgrund wirtschaftlicher Mammutprojekte wie diesem wird der türkische Präsident von seinen Kritikern als „Sultan Erdogan“ gescholten. Auch sein herrisches Auftreten sowie sein ungestümes, oftmals gar illiberales Umgehen mit Kritikern trägt dieser Bezeichnung Rechenschaft. Daß Erdogan von demokratischen Werten nur bedingt etwas hält, daraus macht er selbst kein Geheimnis. „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind“, verkündete er im Jahre 1998 stolz auf einer Veranstaltung im ostanatolischen Siirt. „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Für obigen Ausspruch endete Erdogan vier Monate im Gefängnis und bekam lebenslanges Betätigungsverbot in politischen Ämtern.

Das Verbot wurde auf Erdogans Bestreben Ende 2002 wieder aufgehoben. Kurz zuvor hatte die von ihm gegründete Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) das türkische Abgeordnetenhaus bei den Parlamentswahlen vom November selbigen Jahres nahezu im Sturm erobert. Die Zehnprozenthürde ließ außer den Kemalisten der CHP sowie der AKP sämtliche anderen Parteien am Einzug scheitern; eine anschließende Verfassungsänderung sowie die Widerrufung des Wahlergebnisses – symbolisch ebenfalls in Siirt, welches Erdogan beinahe gänzlich die politische Laufbahn versperrt hätte – sicherten ihm einen Sitz im Parlament sowie das Amt des Premiers.

Innerparteilich regiert der 62jährige seine AKP geradezu autokratisch. Politische Kontrahenten, wie zuletzt der damalige Vizepremier Bülent Arinc, wurden systematisch kaltgestellt und durch ungünstige Wahlkreiszuteilungen aus dem Abgeordnetenhaus gedrängt. Bei der Verwirklichung seiner Visionen duldet Erdogan schon längst keine Nebenbuhler mehr, und schon gar keine Kritik aus den eigenen Reihen. Immerhin, so der Duktus Erdogans nach seinem doch überraschenden letzten Wahlsieg mit 52 Prozent der Stimmen, repräsentiert er nicht weniger als das gesamte türkische Volk.





Erdogans Türkei 

Über 13 Jahre führt Recep T. Erdogan die Geschicke der Türkei. Für die einen ist der 62jährige eine Lichtgestalt. Für die anderen ein machtversessener Politiker, der die Türkei islamisieren will und die Meinungsfreiheit einschränkt. In einer neunteiligen Serie wird die JF alle Facetten seiner Politik beleuchten. Teil eins beschäftigt sich mit dem Aufstieg Erdogans. Teil zwei (JF 18/16) wird dessen Verhältnis zum Kemalismus und zum Islam beleuchten.