© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Fremde Kinder aufziehen
Multikulturalismus: Französische Intellektuelle sorgen sich um die Identität und Kultur ihres Landes
Thorsten Hinz

Diesem Buch wird die öffentliche Beachtung, die ihm gebührt, nicht beschieden sein, obwohl, nein weil die „Revolte gegen den Großen Austausch“ des französischen Schriftstellers Renaud Camus zu den intelligentesten, stilistisch anspruchvollsten und bittersten Veröffentlichungen über den ethnischen und kulturellen Umbruch in Europa gehört. Für genau diesen Vorgang hat Camus den Begriff „Großer Austausch“ geprägt.

Der Auswahlband enthält drei Aufsätze von und ein Interview mit ihm sowie ein Vor- und ein Nachwort. Camus zitiert programmatisch aus einer Rede des früheren algerischen Präsidenten Houari Boumedienne vor der UN-Vollversammlung: „Eines Tages werden Millionen von Menschen die südliche Hemisphäre verlassen, um in die nördliche Hemisphäre zu wandern. Und sie werden nicht als Freunde kommen, sondern als Eroberer. Und sie werden sie mit ihren Kindern erobern. Die Bäuche unserer Frauen werden uns den Sieg verschaffen.“ Was ist das anderes als die Ankündigung einer Invasion? Sie stammt aus dem Jahr 1974.

Renaud Camus, 1946 geboren, ursprünglich von der sozialistischen Linken kommend, wird in Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ als Redenschreiber Marine Le Pens erwähnt. In Wahrheit ist sein Verhältnis zur Chefin des Front National distanziert. Renaud stößt sich beispielsweise an Frau Le Pens antieuropäischen Tiraden. Seine Wortwahl und Diktion hingegen sind ruhig und gelassen, um so sicherer und aufwühlender wirkt der Inhalt, den sie transportieren. Ein junger Lehrer marokkanischer Herkunft, dessen Schüler sämtlich aus dem Maghreb stammen, habe ihm, Renaud, versichert, daß die Begriffe, welche die Austausch-Gegner zur Beschreibung der multiethnischen Wirklichkeit Frankreichs benutzen, hinter dieser noch weit zurückblieben. Ausnahmslos alle seine Schüler würden zum Ausdruck bringen, daß sie sich keineswegs als Franzosen fühlten und ihnen die Eroberung Frankreichs ein Anliegen sei. Camus: „Frankreich gleicht heute einer alten Jungfer, die fremde Kinder aufzieht.“

Ähnliches hat man schon bei anderen französischen Intellektuellen gelesen: Bei Houellebecq, Jean Raspail, Richard Millet oder dem Historiker Dominique Venner, der sich im Mai 2013 in der Kathedrale Notre-Dame de Paris aus Protest gegen die Selbstaufgabe Frankreichs erschossen hat (JF 23/13) – so echo- wie folgenlos. Camus erwähnt ihn ausdrücklich, ohne das Selbstopfer für sinnvoll zu halten. Er zieht aus der Verzweiflung eine andere Konsequenz: „Gebt uns, gebt euch, gebt eurem Volk und Europa die Kraft, sich seiner drohenden Verknechtung aufs äußerste zu widersetzen! Revoltiert!“

Er beruft sich auf die französische Résistance während des Zweiten Weltkriegs. Das ergibt eine interessante Parallele zu dem Schriftsteller, Diplomaten und Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel (1917–2013), der 2010 ein Manifest mit dem Titel „Empört euch!“ veröffentlicht hatte. Der 93jährige appellierte darin an die Jugend, gegen die soziale Ungerechtigkeit, die Herrschaft des Geldes, die Kluft zwischen Arm und Reich, gegen die Ausgrenzung illegaler Immigranten zu protestieren. Statt sich der Gleichgültigkeit zu ergeben, sollte sie aus der Empörung die Energie schöpfen, um für Veränderungen zu kämpfen. Er rief zu einem „friedlichen Aufstand“ gegen die Ideologie des Massenkonsums und gegen die „kollektive Amnesie“ und beendete den Aufruf ähnlich wie Camus: „Schöpfung ist Widerstand! Widerstand ist Schöpfung!“

Doch was für ein Unterschied! Das Büchlein von Hessel fand in Deutschland – in Frankreich sowieso – sogleich weite Verbreitung. Umgehend lag eine Übersetzung vor, die großen Zeitungen verfaßten ausgiebige Kommentare, Fernsehinterviews wurden veranstaltet. Mit der Qualität des Textes ließ die überwältigende Resonanz sich unmöglich begründen. Er enthielt nur Platitüden, die sich mit den Beschwörungen der Französischen Revolution, des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und des Sieges über ihn zu einem hohlen Menschheitspathos oder, schärfer ausgedrückt, Literatengeschwätz vereinten, das allerdings wegen seiner politischen Nützlichkeit zum universalistischen Bekenntnis erhoben wurde.

Hessel hatte Artikel 22 der Menschenrechtsdeklaration zitiert: „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Hilfsmittel jedes Staates, in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.“

Seine Aufforderung, die Deklaration in den Alltag zu übersetzen, bedeutete konsequenterweise, die globalistischen Strukturen über die partikularen Strukturen zu stellen und den „Großen Austausch“ moralisch zu legitimieren. Dieser ist Teil der Entwicklung, die Hessel kritisieren wollte. Sein revolutionärer Gestus war also nur eine Täuschung beziehungsweise Selbsttäuschung, welche die destruktiven Tendenzen bestätigte.

Für Camus ist der Austausch gleichbedeutend mit der Verachtung von Moral und Kultur, die „beide danach (trachten), unauswechselbare, unverwechselbare Menschen zu schaffen“. Wer so schreibt und redet, wird auch in Frankreich, zum „Paria“, zum „Ausgestoßenen“ und „lebenden Toten“. Andererseits zieht Camus daraus den Vorteil, zu keinerlei Opportunismus und Heuchelei mehr Anlaß zu haben. Die Austausch-Gegner müßten „zu einer unumgänglichen, manifesten, evidenten Kraft heranwachsen, um sicherzustellen, daß selbst die Medien, für die wir ein fleischgewordener Alptraum werden müssen, es nicht länger vor unseren Landsleuten verbergen können: Es gibt eine Bewegung, die sich der Eroberung konsequent entgegenstellt und der sich jeder jederzeit anschließen kann!“

Das mag reichlich kühn klingen. Soviel aber ist sicher: Jeder, der heute glaubhaft Anspruch auf Widerständigkeit gegen die sich verschärfenden Widersprüche in der multikulturellen Gesellschaft erhebt, steht näher bei Camus als bei Hessel.

Renaud Camus: Revolte gegen den Großen Austausch. Hrsg. und übersetzt von Martin Lichtmesz. Verlag Antaios, Schnellroda 2016, gebunden, 224 Seiten, 19 Euro