© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

Ein Wolf im Hochhaus
Lappenjagd im Stadtpark: Nicolette Krebitz’ Drama „Wild“ im Kino
Sebastian Hennig

An der Rückkehr des Wolfes in mitteleuropäische Gefilde scheiden sich die Geister. Während die einen davon schwärmen, sehen die anderen darin eine raumgreifende Verwahrlosung. Um diese Diskussion geht es dem Film „Wild“ von Nicolette Krebitz nicht, wenngleich die Leidenschaft der Hauptperson Ania (Lilith Stangenberg) für das Wilde aus einer Erfahrung der Vernachlässigung erwächst. Der Film will keine These verfechten. Unbezähmbarkeit und Zähmung sind seine Themen. Er bedient sich der Aura des Wildtiers, fängt sie im bewegten Bild ein und erzählt damit eine spannende und unheimliche Geschichte.

Der erste Dialog ist ein Video-Ferngespräch am Computer, an dessen Ende die entfernte Freundin Jenny (Saskia-Sophie Rosendahl) aufzulegen vergißt und damit die Einsame unfreiwillig zur Zeugin ihrer mit dem Partner ausgelebten Lüsternheit werden läßt. Ania entgeht dem erst, als sie nach einer Weile den Rechner einfach zuklappt und sich zur Ruhe begibt.

Für sie beginnt jeder Morgen nach dem Weckerklingeln mit der Fahrt aus Halle Neustadt hinüber in das Großraumbüro in der Altstadt. Sie streift dabei ein verwahrlostes Gebüsch, welches mit der gleichen Berechtigung als ein Park gelten kann, wie die angrenzenden Plattenbauten Wohnhäuser sein sollen. Ihr Chef in der Agentur ist Boris (Georg Friedrich). Er fühlt sich angezogen von der unnahbaren Ausstrahlung der jungen Frau und versucht, sie an sich zu ziehen. Sie bedient sich dieser Spannung, um Abstand zu den Kollegen zu halten. Sie ist offenbar zu stark, hart und gescheit für die Niederungen des gewöhnlichen Lebens.

So scheint sie ihr Leben lang auf etwas zu warten, das im Ungewissen bleibt. Es tritt hervor, als sie sich eines Tages in jenem verbuschten Areal unter ihrem Haus einem Wolf gegenübersieht. Das ist endlich mal ein Kerl. Auf ihrem Weg zur Arbeit blickt sie wie eine Erleuchtete durch die Fensterscheibe des Busses auf das Waldstück zurück. Sie ergreift die Vorstellung, den Wolf besitzen zu wollen. Alle Versuche des Anlockens bleiben ergebnislos. Weder ein Steak am Zweig noch das lebend ausgesetzte Kaninchen können den Isegrim bannen.

Als ihre Untermieterin ihr Zimmer geräumt hat, sehen wir Ania in Gedanken Maß nehmen für eine Wolfshöhle. Ein illustriertes russisches Heft mit kyrillischer Schrift kommt ihr in die Hände. Darin wird die Lappenjagd beschrieben. Um ihren Wolf zu überwältigen, beauftragt Ania drei asiatische Frauen aus einer Lumpenfabrik, die ihr Girlanden knoten sollen, mit denen sie des Nachts den Park einhegen und die Treibjagd ausführen wollen. Die schmächtigen Frauen nehmen Reißaus, sobald sie den Wolf erblicken. Ania schießt mit dem Blasrohr die betäubende Injektion und schleppt den Grauen in ihre Hochhauswohnung. Dort hat sie ein Beobachtungsloch in die Wand gestemmt.

Parallel zu dieser Überwältigung zieht Boris gleichermaßen wölfisch seine Bahnen um Ania. Er bestellt sie ins Chefzimmer und macht ihr ungeschickte und ehrliche Komplimente. Ihr ist das gleichgültig, da jetzt ein anderer an ihrer Seite sei. Auf die Frage von Boris, was der täte, antwortet sie: „Nichts … außer gut aussehen.“ Doch ihr steigen die Tränen in die Augen als sie den Wolf von der Brüstung ihres Balkons nach Freiheit lechzen sieht. Auf dem Dach des Hochhauses ereignet sich schließlich der Showdown einer Dreiecksbeziehung.

Die phantastische Überspannung der Geschichte wird diszipliniert durch klare Bilder, überzeugende Charaktere und nicht zuletzt die pure Präsenz des Tieres. Aufsehenerregend ist bereits die Dressurleistung, ein Raubtier nicht nur abzufilmen und mittels Filmschnitt in eine Handlung einzuflechten, sondern es mitagieren zu lassen. Der ungarische Tiertrainer Zoltan Horkai reiste zu den Dreharbeiten mit einem ganzen Rudel. Für Hauptdarstellerin und Kameraleute war es eine gefährliche Angelegenheit. Mehrere Male zieht der hechelnde Wolf seine Lefzen hoch und legt in wilder Gier das ganze Gebiß frei.

Es ist dennoch weder ein Tier- noch ein Fantasyfilm entstanden. Der Wolf läßt die menschliche Natur hervortreten. Krebitz meint: „Anias Handlungen geben keine Antwort auf Zivilisationskrankheiten, der Film macht einen Vorschlag. Er bietet eine Alternative.“ Die Alternative ist dann allerdings nichts anderes als das Kino in seinem Traumverhältnis zum wirklichen Leben. Durch die Konzentration der starken Augenblicke wird eine Bedeutung präpariert, die einer nüchternen Abschätzung nie standhielte.

Der Wolf zieht am Schluß des Films geschmeidig durch die von Menschen geschaffene Haldenlandschaft. Wenn sie auch an der Wasserlache liegend säuft, die Menschin kann bei aller Empathie nicht mithalten, erst recht nicht, wenn sie sich auf die Vorderbeine herunterläßt. In der letzten Szene fällt ihr die Morgensonne auf das Gesicht. Das ist ein anderes Licht als der fahle Schein des Monitors vom Beginn. Die Schönheit der Traumfabrik Kino behält recht gegen jeden Einspruch von seiten des gesunden Menschenverstandes.

Die Vertierung des Menschen ist filmästhetisch weniger bestialisch als die Vermenschlichung der Tiere im Animationsfilm.