© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

„Energiewende ja, aber wir wollen sie nicht sehen
Eine Studie zum gespaltenen ökologischen Bewußtsein der Deutschen / Ärger über Geräusch- und Geruchsbelästigung
Dieter Menke

Die Fukushima-Katastrophe und die Angst vor Kernkraft brachten den Grünen 2011 zweistellige Wahlergebnisse. Angela Merkels abrupt beschlossener Atomausstieg und die als Jahrhundertprojekt ausgerufene „Energiewende“ bescherten auch der Bundesregierung hohe Zustimmungswerte. Und bis heute unterstützen etwa 80 Prozent die auf Wind und Sonne setzende Energiepolitik und befürworten deren Fortsetzung. In auffälligem Kontrast zu diesem großen Rückhalt treffen konkrete Bauvorhaben indes häufig auf massive Proteste und gerichtliche Klagen lokaler Umweltinitiativen. Die generell positive Einstellung wandelt sich also bei direkter Betroffenheit in harsche Ablehnung.

Dieses „Sankt-Florians-Prinzip“ trat schon seit den achtziger Jahren beim Bau von Windkraftanlagen oder Mülldeponien auf, hat jedoch seitdem keine wissenschaftlich befriedigende Erklärung gefunden. Um das Rätsel zu lösen und Bremswirkungen gegen die Energiewende zu minimieren, finanzierte das Bundesforschungsministerium eine Studie zum Thema „Energiewende in Deutschland – Not-In-My-Backyard oder eine Frage der Gerechtigkeit?“, deren überraschendes Ergebnis ihr Verfasser Ulf Liebe, Professor für Nachhaltige Gesellschaftsentwicklung an der Universität Bern, nun in der Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht präsentiert.

Demnach disponiere weniger persönliches Betroffensein zum Protest, sondern ein gestörtes Gerechtigkeitsempfinden. Denn unter finanziellen wie nichtmonetären Aspekten werde die Energiewende vielfach als „ungerecht“ aufgefaßt. So beurteilt es eine Mehrheit der Befragten als unfair, wenn selbst bei überschaubaren Projekten wie Bürgerwindparks nur wenige profitierten, alle Nachbarn aber die Lasten, Landschaftsverschandlung und Emissionen, trügen.

Zudem erweitere die subjektiv als Benachteiligung wahrgenommene sozialräumliche Verteilung von Geräusch- und Geruchsbelästigung die Gerechtigkeitslücke. Im nationalen Maßstab komme hinzu, daß sich arme Mieter in Berlin-Wedding als Verlierer der Energiewende verstehen müssen, wenn sie mit ihrer Stromrechnung die Subventionierung der Solaranlage des „Freiburger Zahnarztes“ mitbezahlen. Da Angebote finanzieller Kompensation zumindest die ländliche Bevölkerung bisher nicht mit Anlagen vor ihrer Haustür versöhnten, sollte nunmehr stärkere Bürgerbeteiligung mehr „Verfahrensgerechtigkeit“ schaffen, um Widerstände rechtzeitig abzubauen.

„Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht“ (4/15), S. 367-384: www.ruw.de