© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

Die Welt in Zinn
Geschichte und Gesellschaft lebendig dargestellt: Zinnfiguren haben ihre Fangemeinde
Bettina Reuter

Bei diesem Gipfeltreffen braucht es keine weitreichenden Absperrungen, es sind auch keine Hundertschaften Polizisten vor Ort. Während Alexander der Große in einem von vier Pferden gezogenen Wagen heranprescht, spricht Friedrich II. in farbenprächtiger Uniform gerade noch zu seinen Generälen, um sie vor der Schlacht bei Leuthen auf den Sieg einzustimmen, stoisch beobachtet vom Häuptling Sitting Bull. Nahezu die gesamte Weltgeschichte vereint in einem evangelischen Gemeindehaus in Berlin-Wilmersdorf. In Miniatur, in Zinn: präzise gegossene Figuren, so fein gearbeitet, daß selbst Gesichtszüge erkennbar sind. Neben noch blanken, silberglänzenden Gestalten sind auch viele kunstvoll bemalte zu bewundern. Alle zwei Jahre treffen sich dort Mitglieder und Freunde des Vereins zum „Zinnfiguren-Festival“, um einem größeren Publikum ihre Werke zu zeigen, um sich auszutauschen und natürlich auch um neue Figuren von den extra angereisten Herstellern zu erwerben. Ideen für Figuren liefert die Geschichte von selbst.

Der Verein „Klio – Deutsche Gesellschaft der Freunde und Sammler kulturhistorischer Zinnfiguren“ mußte nach dem Krieg 1952 nur reaktiviert werden, denn schon seit 1924 gab es die Vereinigung. „Klio ist die Muse der Heldendichtung und Geschichtsschreibung, eine der neun berühmten griechischen Musen“, erklärt Rupert Beyer, seit Jahrzehnten im Vorstand der Klio.

Die Berliner Sammler kommen einmal im Monat zusammen, um zu fachsimpeln und sich Ratschläge von Mitstreitern zu holen, bevor dann wieder jeder an seinen Arbeitstisch zurückkehrt, zu Pinsel und Farben. Neben der kunstvollen Handarbeit ist gründliche Recherche nötig, damit jedes Detail der Uniform historisch exakt gemalt ist, vor allem der genau richtige Farbton. „Ich bin eigentlich durch das Mischen der Farben zum Bemalen von Zinnfiguren gekommen, das habe ich in meiner Ausbildung als Maler gelernt. Damit wollte ich mehr umgehen, wollte es nicht verlernen. Aber Schiffe oder Flugzeuge zu bemalen, war mir zu eintönig“, berichtet Botho Fernow an seinem Stand. Unweigerlich, so erzählen viele Sammler, lernt man durch das nötige Nachlesen eine Menge Geschichtliches dazu: „Wenn ich das jemandem zeige, muß ich ja auch mal erzählen, wer das überhaupt ist.“ Die Geschichte lebt schließlich neu auf, erwacht zu Kompositionen von Figuren und Szenen, je nach Können und Engagement auch mit zusätzlich gestaltetem Hintergrund, mit Bäumen und Tieren. Handwerkliches Geschick im Umgang mit Lötkolben, Holz, Leim und vielen anderen Materialien ist in jedem Fall gefragt. Die Ergebnisse sind bei dieser Veranstaltung der Klio zu bewundern.

„Zunächst wird in Zusammenarbeit mit einem Graveur eine Gravurzeichnung angefertigt, daraus fertigt der Graveur dann die Schieferform für den abschließenden Guß der Zinnfigur an“, erklärt Zinn­figurenhersteller Bernhard Bakat den Fertigungsprozeß. Einige Graveure gelten als Meister ihres Fachs, so der russische Künstler Vladimir Nuzhdin, Restaurator an der Eremitage in St. Petersburg. Auch wenn Bakat, neben dem privaten Malen, neue Figuren vertreibt, ist es dennoch sein Hobby; leben kann man davon nicht.

Eine wichtige Anlaufstelle für Berliner Sammler ist das „Kabinett der Berliner Zinnfiguren“ von Hans-Günther Scholtz, der in seinem Ladengeschäft alles anbietet, wonach das Sammlerherz suchen könnte. Begonnen 1934 von Vater Werner mit dem Vertreib der ersten Figur, ist es heute der Sohn des Gründers, der das Geschäft mit dem „Preußischen Bücherkabinett“ erweitert hat.

Mit militärischen Figuren nahm alles seinen Anfang. Damals gab es nur flache Zinnsoldaten, die aneinandergereiht zu Formationen eher als Spielzeug dienten. Heute gibt es neben den flachen auch die vollplastischen Figuren, die viel lebendiger wirken und nicht nur Vorder- und Rückseite haben. Damit sind noch beeindruckendere Arrangements möglich. Und mit erwähntem Sitting Bull gibt es nun auch Gestalten aus gänzlich anderen Bereichen. Märchenfiguren, Modeepochen oder Opernfiguren haben ihren Platz im Sammlergeschehen.

„Mit den Jahren hat sich die ganze Szene sehr verändert“, erzählt Frank-Michael Glöß, Sammler seit 1975 und aus dem ehemaligen Ost-Berlin stammend. Wie so viele Vereine hat die Klio Nachwuchssorgen. Es werden bei jüngeren Liebhabern immer noch gern Schlachten nachgestellt, und es gibt auch hier nicht wenige, die die Figuren mit viel Können bemalen. Das Interesse ist da, aber anders gelagert. „Die Jüngeren mögen diese festen Vereine weniger gern, die vertreiben sich eher die Zeit in losen Bewegungen.“