© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Experiment mit ungewissem Ausgang
Bildungspolitik: Mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche aus Asylbewerberfamilien werden mittlerweile an deutschen Schulen unterrichtet
Christian Schreiber

Mit dem im vergangenen Jahr einsetzenden Flüchtlingsstrom sind auch hunderttausend Kinder im schulpflichtigen Alter in die Bundesrepublik eingereist. Gemäß den Vereinbarungen mit den Vereinten Nationen haben diese Kinder Anrecht darauf, in einer Schule unterrichtet zu werden.  Die Umsetzung ist aufgrund der verfassungsrechtlichen Kulturhoheit Sache der Bundesländer. In fast allen 16 Ländern sind mittlerweile sogenannte Willkommens- oder internationale Klassen eingerichtet worden. Darin sind Schüler zusammengefaßt, die entweder gar kein oder nur unzureichend Deutsch sprechen können. 

Es ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang, das aber wohl den Nerv der einheimischen Bevölkerung trifft. Vier von fünf Deutschen (82 Prozent) sind nach einer Emnid-Umfrage der Ansicht, daß Flüchtlingskinder zunächst in Willkommensklassen Deutsch lernen und nicht sofort in den regulären Unterricht gehen sollten. Diese Einstellung der Einheimischen widerspricht aber den Vorstellungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Deren Pisa-Chefkoordinator Andreas Schleicher hatte die von den Bundesländern angebotenen Vorbereitungs- oder Willkommensklassen, in denen Kinder von Asylbewerbern quasi unter sich sind, als Notbehelf bezeichnet – für einen schnellen Spracherwerb seien sie auf Dauer „keine gute Lösung“, sagte Schleicher der Nachrichtenagentur dpa. 

Ein OECD-Bericht sieht eine gezielte Sprachförderung in Regelklassen als bessere Lösung an. Insgesamt leben derzeit mehr als 300.000 schulpflichtige Flüchtlingskinder in der Bundesrepublik. Für den Staat ist das eine enorme Herausforderung. Niemand kann realistischerweise einschätzen, wie lange sich das jeweilige Asylverfahren hinziehen wird, grundsätzlich können auch Schüler mit ihren Eltern während eines laufenden Schuljahrs abgeschoben werden. Neben diesen Unwägbarkeiten wird der Bildungsauftrag auch dadurch erschwert, weil die Kinder weder Deutsch beherrschen noch die lateinische Schrift. Hinzu kommt, daß die Schüler aus sehr unterschiedlichen Kulturkreisen stammen, verschiedene Muttersprachen haben.  

Zudem gibt es Kapazitätsprobleme: Vor allem die Bundesländer, die prozentual am meisten unter dem Flüchtlingszustrom zu ächzen haben, schlagen Alarm. In Berlin erhalten mindestens 1.000 Kinder von Asylbewerbern keinen Unterricht, obwohl sie schulpflichtig sind. Die Senatsverwaltung für Bildung kommt mit ihrem Konzept, die Mädchen und Jungen, die in der Regel zwischen 6 und 16 Jahren alt sind, direkt in reguläre Schulen zu bringen und dort in eigenen Willkommensklassen vorzubereiten, nicht hinterher. In der Hauptstadt gibt es derzeit 639 Sprachklassen, rund 6.700 Kinder lernen dort, 700 Lehrer hat die Stadt dafür neu eingestellt. Nur Nord-rhein-Westfalen und Bayern haben noch mehr neue Lehrer geholt. In NRW waren es 3.656, im nächsten Jahr sollen weitere 2.000 dazukommen. Bayern hat 1.079 verpflichtet. Deutschlandweit wurden bisher mehr als 12.000 Lehrer zusätzlich eingestellt.

Und es sollen noch mehr werden. Händeringend suchen manche Bundesländer nach Lehrkräften, teilweise werden pensionierte Pädagogen reaktiviert, mittlerweile wird auch darüber diskutiert, ob erwachsene Flüchtlinge, die schnell Deutsch gelernt haben, als Lehrer eingesetzt werden. In den Willkommensklassen, im Behördendeutsch „Vorbereitungsklassen“ genannt, unterrichten auch Ehrenamtliche oder angehende Lehrer. Ein Qualitätsmanagement – sagt beispielsweise das saarländische Kultusministerium – sei da nur schwerlich möglich. Offenkundig sind die meisten Bundesländer heilfroh, überhaupt genügend Personal zu haben. Der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, sagte dpa, in den Willkommensklassen lägen „hohes Engagement und große Frustration sehr nah beieinander wegen des Drehtüreffektes. Es kommt auch keine Verbindung zustande zwischen den Lehrern an den verschiedenen Standorten.“ 

Lehrer warnen vor Neidkultur

Meidinger geht davon aus, daß an den Regelschulen nicht einmal die Hälfte der Kinder angekommen ist – und daß bis zu 80.000 noch gar nicht registriert sind. Ohne die Einstellung zusätzlicher Lehrer auch nächstes Jahr werde sich „eine riesige Bedarfslücke“ auftun. 

In Berlin gibt es Klassen für Ausländerkinder bereits seit den siebziger Jahren. Die Erfahrungen sind nicht unbedingt nur positiv. Es gibt Berichte von ausufernden Gewalttätigkeiten, viele Schüler seien nie in einem regulären Schulsystem angekommen. Aktuell bekommt die Diskussion auch eine ideologische Note. In vielen Bundesländern wurde aus Kostengründen in den vergangenen Jahren bei den Lehrerstellen gespart. Die Willkommensklassen müssen ausgestattet werden, auch das kostet Geld. Berliner Lehrer beklagen eine „ausgesprochene Neidkultur“, die die Zeit kramte einen Artikel aus den achtziger Jahren wieder heraus, in dem sie die Frage stellte, ob reine Ausländerklassen „die Apartheid in die Schule“ tragen. Doch in den meisten Bundesländern ist man der Auffassung, daß es ohne die Willkommensklassen nicht geht. Die Zahl der Kinder sei teilweise so hoch, daß ein regulärer Unterricht in normalen Klassen nicht mehr möglich wäre, teilt beispielsweise die Berliner Senatsverwaltung mit.