© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Wir sind Bier
500 Jahre Reinheitsgebot: Vom Mythos zur Erfolgsgeschichte / Über das Nationalgetränk der Deutschen
Christian Vollradt


Schließen Sie bitte – nach dem Lesen dieses ersten Absatzes – die Augen und stellen sich folgendes vor: Ein heißer Tag neigt sich dem Ende, stundenlang waren Sie draußen in der Natur, sind gewandert oder mit dem Rad gefahren. Die Beine fühlen sich schon etwas schwer an, Ihrer Zunge und Kehle würde etwas Feuchtigkeit nun gut tun. Endlich haben Sie ein schattiges Plätzchen unter Bäumen gefunden, vor Ihnen ein kleiner Holztisch. Über Ihnen zwitschern die Vögel, neben sich ist das Stimmengewirr der Tischnachbarn vernehmbar. Mit einem Lächeln und einem freundlichen „Wohl bekomm’s!“ stellt die Bedienung ein Glas vor Sie auf den Tisch: golden schimmernd, von der Sonne angestrahlt, Kohlensäurebläschen steigen nach oben, etwa zwei Fingerbreit unter dem Glasrand ein weißer, fester Schaum. Weil die Flüssigkeit kühl und die Luft noch immer flirrend warm ist, beschlug das Glas von außen, feine Tropfen perlen langsam nach unten und werden von einem runden Pappuntersetzer aufgefangen. Sie heben das Glas, führen es an den Mund, der Schaum benetzt ihre Lippen und Sie nehmen den ersten kühlenden Schluck ... 

Na, Appetit bekommen auf ein Bier – leicht bitter, malzig, mit feiner Hopfennote? Falls ja, ist das kein Wunder und eine hierzulande sehr durchschnittliche Geschmacksregung. Wir Deutschen sind eine Bier-Nation, auch wenn wir deutlich mehr Kaffee (durchschnittlich 162 Liter pro Jahr pro Kopf) und Mineralwasser (144 Liter) trinken als Gerstensaft (107 Liter) und wir damit knapp hinter den Tschechen liegen. Aber was die Anzahl der Brauereien angeht und die produzierte Menge führen wir in Europa mit großem Abstand (siehe Infografik). 

Schon Tacitus schrieb in seiner berühmten „Germania“ (verfaßt zwischen 98 und 111 n. Chr.): „Potui humor ex hordeo aut frumento in quandam similitudinem vini corruptus; als Getränk dient ihnen (den Germanen) ein Saft aus Gerste oder Weizen, der zu einem weinähnlichen Gebräu vergoren ist.“ Und auch eine andere – nicht ganz aus der Mode gekommene – Sitte (oder Unsitte) zeichnete der römische Ethnograph damals auf: daß die Germanen, was das Essen betrifft, zwar eher schlicht und einfallslos nur ihren Hunger vertreiben, dem Durst gegenüber aber „nicht die gleiche Mäßigung“ zeigen. Das (später entstandene) Sprichwort „Gebrautes ist so gut wie Gekautes“ kommt also nicht von ungefähr. Tacitus hatte die Schwachstelle unserer Vorfahren erkannt: „Wenn man ihrem Hang zum Trinken entgegenkommt, indem man ihnen hinstellt, soviel sie wollen, wird man sie nicht weniger leicht durch diesen Fehler als mit Waffen besiegen.“ 

Bier ist also weit mehr als ein bloßes Produkt, das hergestellt und konsumiert wird; Bier ist ein Kulturgut. Das wird mit dem Tag des Bieres am Samstag gefeiert. In diesem Jahr um so mehr, denn das „Reinheitsgebot“, verkündet „zu Georgi“ (23. April) 1516 auf dem Ingolstädter Landtag durch Bayerns Herzog Wilhelm IV., wird 500 Jahre alt. „Genuß hat Geburtstag“, so das von den Marketing-Strategen des Deutschen Brauer-Bundes ersonnene Motto.

Das Reinheitsgebot war  eine Höchstpreisordnung

„Fiktionen können geschichtsmächtiger als Fakten sein“, schrieb der 2006 verstorbene Göttinger Historiker Ernst Schubert in seinem Standardwerk über „Essen und Trinken im Mittelalter“. Ein Beispiel: eben jenes Reinheitsgebot, wonach „zu kainem Pier / merer stuckh / dann allain Gersten / hoppfen / und wasser / genomen unnd gepraucht solle werden.“ 

Doch mit dieser Festlegung ist das bayerische Gesetz keineswegs originell. So beruft sich etwa das thüringische Weißensee auf ein städtisches Statut aus dem Jahr 1434, das eine entsprechende Zutatenbeschränkung enthält. Und auch in London wurde bereits 1484 schriftlich verfügt, daß Bier allein aus „licuor, malt and yeste“ (Wasser, Malz und Hefe) bestehen dürfe. Um das riskante Experimentieren mit Aromastoffen zu unterbinden, hatten viele Städte solche Vorschriften erlassen. „Aber hierin liegt keineswegs der Sinn des Gesetzes von 1516. Es ist vielmehr ein Höchstpreisgebot“, stellte Schubert fest. Denn festgeschrieben wird darin, daß eine Maß Bier im Winter einen und im Sommer zwei Pfennig kosten darf. „Das ist der reale, der einfache Kern des Mythos vom Reinheitsgebot“, so Schubert. Es sei also nicht um eine Qualitätssicherung gegangen, mit der das Bierpanschen verhindert werden sollte. Sondern die Bestimmung habe allein dazu gedient, „die Höchstpreisordnung zu sichern, damit niemand sie mit dem Argument umgehen kann, daß er teure Ingredienzien dem Bier beigemischt habe.“ 

Das Reinheitsgebot, das also streng genommen gar keines war, existiert heute unter der wenig prickelnden Bezeichnung „Verordnung zur Durchführung des Vorläufigen Biergesetzes“. Dort findet sich auch die Bestimmung, wonach zur Herstellung von untergärigem Bier nur „Hopfen, Hefe und Wasser verwendet werden“ dürfen. 

Doch es gibt vermehrt Stimmen, die meinen, 500 Jahre seien genug. Vor allem jüngere Brauer, „Bier-Nerds“, wie sie sich selbst bezeichnen, die aus der sogenannten Craftbeer-Szene stammen, äußern sich so. Craftbeer oder auch Craftbier, zu deutsch: handwerklich gebrautes Bier, ist ein Trend, der vor einigen Jahren aus Amerika zu uns schwappte. Jenseits des Atlantiks hatte der Überdruß am Einerlei aus den Großbrauereien, an der dünnen „Industrie-Plörre“ dazu geführt, daß immer mehr kleinere Brauereien gegründet wurden, die auf Klasse statt Masse setzten. In der deutschen „Kreativbier“-Szene empfinden viele die Beschränkung auf vier Zutaten als unnötige Einschränkung. Hier plädieren viele dafür, das Reinheits- durch ein Natürlichkeitsgebot zu ersetzen. Die Zutatenpalette könnte so erweitert werden, chemische Zusatzstoffe blieben jedoch weiterhin tabu. Ihr Argument lautet auch: Das Reinheitsgebot sei kein Garant für Qualität; denn wenn das Malz schlecht und der Hopfen gammelig seien, komme trotz Einhaltung der gesetzlichen Standards ein schlechtes Bier heraus. 

Einige Verfechter dieser neuen Art des Brauens begründen ihr Tun mit einem geradezu konservativen oder traditionalistischen Ansatz: sie wollen viel ältere Verfahren wieder zum Leben erwecken (etwa mit „Grut“ zu brauen, einer Kräutermischung aus der Zeit vor der Hopfennutzung), Biersorten beleben, die durch die Dominanz des Pilseners in Vergessenheit gerieten (wie Gose, Lager, Deutsches Ale). Für sie gilt: nicht nach, sondern vor dem Reinheitsgebot zu brauen. 

„Freut mich, daß man sich austoben kann“

Nebenbei: Das Biergesetz läßt schon jetzt Ausnahmen zu und erlaubt auch weitere (natürliche) Zutaten. Brauer können sich dafür eine Genehmigung besorgen und ihr Produkt dann trotz Abweichungen von der Norm Bier nennen. Bizarr sind allerdings die Konsequenzen, die sich in der Gegenüberstellung des deutschen Reinheitsgebots und des EU-Rechts ergeben. Denn Bier, das nicht dem Reinheitsgebot entspricht, darf hierzulande als Bier auf den Markt kommen, wenn es im Ausland hergestellt wurde. Demgegenüber dürfen deutsche Brauereien, die ein solches, nicht dem Reinheitsgebot entsprechendes Produkt herstellen, dieses in Deutschland nicht als Bier bewerben; sehr wohl dürfen sie dies, wenn sie es im Ausland verkaufen. Grund für diese unlogisch erscheinende Regelung: Die deutschen Brauer diskriminieren sich sozusagen freiwillig selbst. Würden sie dies nicht mehr tun, wäre nur noch das EU-Gesetz bindend; das erlaubt chemische Zusätze, künstliche Enzyme, Farb- und Aromastoffe. Dann wäre der „Geist aus der Dose“ – und das wollen in aller Regel auch die Kritiker des Reinheitsgebots auf gar keinen Fall. 

„Die Sache mit dem Craftbeer“, erzählt ein junger Diplom-Braumeister der JUNGEN FREIHEIT, „ist ein bißchen so wie mit Bio-Produkten: jeder ist irgendwie dafür, aber nur wenige kaufen es.“ Tatsächlich sei Craftbeer nur eine Randerscheinung auf dem deutschen Markt mit einem Anteil „im niedrigen einstelligen Prozentbereich“. Der Brauer-Bund spricht von 0,5 Prozent. Kein Vergleich zu den USA, wo das handwerklich gebraute Bier etwa 20 Prozent ausmacht. „Das Problem ist auch, daß Craftbeer kein geschützter Begriff ist“, meint der Experte. „Legt man die amerikanische Definition zugrunde – also maximal 9,5 Millionen Hektoliter Ausstoß pro Jahr und eine regionale Verankerung – dann ist auch Warsteiner ein Craftbeer“, gibt er zu bedenken. Aufgrund der Mode und weil sich mit Craftbeer wesentlich höhere Gewinnmargen erreichen lassen, betreibe mancher da ziemlichen Etikettenschwindel, ist sich der studierte Braumeister sicher. Dem Trend zu mehr Sortenvielfalt statt Einheitsbräu im Supermarktregal gewinnt er durchaus Positives ab: „Als Kunde freut es mich, daß man sich da jetzt austoben kann, aber als Brauer denke ich: das Zeug muß auch verkauft werden.“ Bei aller Liebe zu Mikrobrauereien beäugt es der Profi durchaus kritisch, daß dank der Europäischen Union das Bierhandwerk nicht mehr geschützt ist und Betriebe nicht mehr von einem Meister geführt werden müssen. „Na ja, und was manche Hobbybrauer einem dann so vorsetzen, ist manchmal schlicht ungenießbar“, lautet sein Urteil. 

Die Mehrheit der Verbraucher jedenfalls strebt nicht nach gesetzgeberischen Veränderungen: Laut einer Forsa-Umfrage wollen 85 Prozent der Deutschen, daß das Reinheitsgebot so bleibt wie es ist. Denn egal, was daran Mythos und was real ist, die Begrenzung der Zutaten hat für vergleichsweise hohe Qualitätsstandards und einen ausgezeichneten Ruf in der Welt gesorgt. 

Aber Bier ist mehr als ein profanes Getränk oder Durstlöscher. Im 19. Jahrhundert, eben jener Zeit, in der geradezu eine „Bierideologie“ (Schubert) einsetzte, wurde der Gerstensaft zum dominierenden alkoholischen Getränk. Die Eckkneipe wurde für Arbeiter zum Ort der politischen Bildung und des Meinungsaustauschs. Auch im Bürgertum gehörten Wirtshaus und Politik zusammen. „Es ist ein Grundbedürfnis der Deutschen, beim Biere schlecht über die Regierung zu reden“, behauptete Otto von Bismarck. Und es werde, so der Reichskanzler (und zeitweise exzessiv praktizierende Zecher), „mit wenig soviel Zeit totgeschlagen wie mit Biertrinken“. 

Dieser soziale und kommunikative Aspekt des Gebrauten ist bis heute ein wesentlicher geblieben. „Ein Mann braucht einen Kasten Bier, um einem anderen Mann seine Zuneigung auszudrücken“, so der Journalist Till Raether in einem Artikel für die Frauenzeitschrift Brigitte. Wo Männer zusammenleben, stellte er augenzwinkernd fest, bilde der Bierkasten den „spirituellen Mittelpunkt“. Eine nichtrepräsentative Umfrage unter Leuten mit einschlägiger Erfahrung in Männer-WGs, Kasernen, Studentenverbindungen, Schützenbruderschaften oder Freiwilligen Feuerwehren bestätigte diese Feststellung Raethers zu 99,9 Prozent: Bier ist Tagungsraum, Gerichtssaal, Friedenskonferenz, Motivationsseminar und Ruhezone in einem. Und in flüssig.

Ihnen ist das alles hier zu trocken? Völlig richtig. Für das Thema Bier ist eine Zeitungsseite eigentlich ungeeignet. Schließen Sie einfach die Augen. Oder besser: Öffnen Sie ein Fläschchen ... Zum Wohl!

 www.reinheitsgebot.de/

 www.mikrobrauer.com/